«Wonderstruck»: Zwei Filme in einem
Todd Haynes hat Brian Selznicks Roman «Wonderstruck» originell, stimmungsvoll und mitreissend verfilmt. Es ist die Geschichte von zwei gehörlosen Kindern, von denen das eine 50 Jahre nach dem anderen lebt.
Wie kommt man eigentlich ins Filmgeschäft? «Oh, das ist ganz einfach», witzelt Brian Selznick, der Autor des Romans «Wonderstruck», «man schreibt 15 bis 20 Jahre lang Romane und wartet auf einen Anruf von Martin Scorsese.» Tatsächlich hat Scorsese Selznicks Roman «The Invention of Hugo Cabret» unter dem Titel «Hugo» (2011) erfolgreich verfilmt.
«Man schreibt 15 bis 20 Jahre lang Romane und wartet auf einen Anruf von Martin Scorsese.»
Diese Erfahrung hat Selznick ermutigt, auch «Wonderstruck» verfilmen zu lassen, obwohl dieses Buch noch ungewöhnlicher ist. Es erzählt nämlich zwei Geschichten, die eine ganz in Comicform, aber ohne Sprechblasen, die andere in gewohnter Prosa. Der Comicteil handelt von einem Mädchen, das von Geburt an gehörlos ist und im Jahr 1927 ausreisst, um in New York eine Schauspielerin zu suchen, von der sie jeden Zeitungsartikel sammelt. Der Prosateil spielt 1977 und schildert, wie ein Junge kurz nach dem Tod seiner Mutter bei einem Unfall das Gehör verliert und ebenfalls ausreisst. Nur sucht er in New York nach seinem Vater.
Selznick hat das Drehbuch für den Film selbst geschrieben und beschlossen, dass die Geschichte des Mädchens im Stil eines schwarz-weissen Stummfilms nur mit Musik auf der Tonspur daherkommt, während die Geschichte des Jungen in Farbe und mit einer kompletten Tonspur erzählt wird. So sensationell ist dieser Einfall ja noch nicht, dennoch zieht einen der Film rasch in seinen Bann. Denn die Übergänge von den schwarz-weissen zu den farbigen Szenen sind so elegant und gelungen, dass man fasziniert im Kino sitzt und gespannt auf die nächste Verknüpfung wartet.
Endet der Schwarz-Weiss-Teil zum Beispiel mit einem Papierschiffchen, beginnt der Farbfilm-Teil gleich darauf mit Booten an einem Landesteg. So werden die beiden Handlungsstränge visuell immer dichter verwoben, und man beginnt zu ahnen, dass sie noch viel grundlegender miteinander verbunden sind. Die Auflösung bekommt man allerdings erst gegen Ende des Films. Natürlich ist es nicht möglich, dieses Aha-Erlebnis zu beschreiben, ohne zu spoilern. Deshalb lassen wir es.
So werden die beiden Handlungsstränge visuell immer dichter verwoben.
Wie das New York von 1927 und jenes von 1977 auf die Leinwand gezaubert werden, ist ein besonderer Spass. Der Aufwand für Szenenbild und Kostüme muss riesig gewesen sein, da ja quasi zwei Filme in einem ausgestattet werden mussten. Und natürlich steht und fällt der Film mit den beiden Kinderdarstellern. Millicent Simmonds (13), die auch in Wirklichkeit gehörlos ist, verzaubert das Publikum mit ihren staunenden Augen und vermittelt eine Ahnung davon, was es heisst, ohne den Gehörsinn zu leben. Auch Oakes Fegley (11) macht seine Sache als Gehörloser, der aber sprechen kann, sehr gut.
Ein weiterer Pluspunkt von «Wonderstruck» ist die Handschrift von Regisseur Todd Haynes, der mit «I’m Not There» (2007) den ungewöhnlichsten Film über Bob Dylan gemacht hat, der je ins Kino kam. Haynes’ Liebe zum Detail und sein Sinn für Ästhetik zeigte sich schon in der Patricia-Highsmith-Verfilmung «Carol» (2015), in der die Geschichte einer lesbischen Liebe erzählt wird. All diese Qualitäten kommen auch in «Wonderstruck» zum Zug: Der Film ist eine wahre Augenweide, ohne kitschig zu werden.
Reto Baers Bewertung
«Wonderstruck» läuft ab dem 17. Mai in folgendem Zürcher Kino: