Menschen & Leben | Besondere Berufe

«Die Gesellschaft sagt: ‹Das ist falsch›»

Interview: Eva Hediger

Zürcher:innen mit besonderen Berufen: Petra Benedikt ist Polyamorie-Coach: Sie hilft allen weiter, die mehr als eine Person lieben. Und das tut sie auch am Wochenende. Denn Petra weiss aus eigener Erfahrung, wie schwierig Polyamorie sein kann.

Du arbeitest seit einigen Jahren als Polyamorie-Coach. Was ist der erste Schritt für Leute, die mehr als eine*n lieben wollen?

Man sollte sofort das offene Gespräch mit dem Partner respektive der Partnerin suchen. Und zwar am besten, bevor man sich fremdverliebt hat! Dafür eignet sich meiner Meinung nach die Redestab-Kultur am besten: Eine*r spricht, der*die andere hört mit dem Herzen zu.

Für deine Klient*innen bist du rund um die Uhr und auch am Wochenende da. Wieso?

Ich begleite meine Klient*innen während eines neuen Lebensabschnitts. Bisher haben sie monogam gelebt, jetzt interessieren sie sich für Polyamorie. Das bringt natürlich Veränderungen mit sich und verunsichert. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Klient*innen jederzeit bei mir melden können. Ich kann ihnen viele ihrer Fragen beantworten. Zum Teil kenne ich ihre Situation persönlich.

«Viele sind unsicher, wie sie im Alltag poly leben können.»

Auch du hast lange monogam gelebt. Mit welcher Frage kämpfen die meisten?

Sie fragen sich natürlich, ob sie den richtigen Weg einschlagen. Viele haben gerade am Anfang dieser Phase kein grosses Selbstvertrauen. Schliesslich sagt ihnen die Gesellschaft immer wieder: «Es ist falsch, mehrere Partner*innen zu lieben.» Ich möchte den Leuten, die ich begleite, zeigen, dass das nicht stimmt.

Wie lange begleitest du deine Klient*innen?

Das ist ganz unterschiedlich. Mit einigen tausche ich mich während mehrerer Jahre immer wieder aus. Andere sehe ich eine Weile sehr intensiv und dann nicht mehr. Beides ist in Ordnung. Ich bin aber da, wenn ich gebraucht werde.

Gibt es Phasen, durch die alle Neu-Polyamourösen gehen?

Ja. Viele sind unsicher, wie sie im Alltag poly leben können. Müssen sie ihre aktuelle Beziehung aufgeben? Wie gehen sie damit um, wenn sich der Partner respektive die Partnerin in jemand anders verliebt?

Wie unterscheidet sich dein Coaching von der klassischen Paartherapie?

Viele Paartherapeut*innen hegen Vorurteile gegenüber der Polyamorie. Sie nehmen diese Beziehungsform nicht ernst. So hat einer zu mir gesagt: «Ach, das ist doch nur eine Phase.» Dabei habe ich gespürt, dass Polyamorie für mich eine Lebensentscheidung ist. Damit ich meinen Klient*innen besser beistehen kann, habe ich auch eine Traumatherapie-Ausbildung absolviert.

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«Ich habe einmal eine Schwangere beraten.»

Erleben deine Klient*innen den Prozess immer als schmerzhaft?

Ja, die meisten. Es ist eine enorme Veränderung, die viele Fragen aufwirft. Nicht nur über die Beziehungen, die wir als Erwachsene leben. Auch die Kindheit ist vielen wieder präsent. Kurz gesagt: Die Persönlichkeitsentwicklung kann easy sein. Für die meisten bedeutet sie aber harte Arbeit.

Hast du auch Kund*innen, die trotz deiner Beratung wieder monogam leben?

Ja, klar. Ich berate auch Paare, die danach sagen: «Wir müssen jetzt erst zu zweit an unserer Beziehung arbeiten. Erst wenn diese Basis stimmt, können wir schauen, ob wir unsere Beziehung öffnen können.»

Ist eine offene Beziehung das Gleiche wie Polyamorie?

Ach, ich habe eigentlich aufgehört, irgendwelche Fachbegriffe zu wählen (lacht). Schliesslich definiert sie jeder Mensch und jedes Paar anders. Und unsere Bedürfnisse verändern sich ja auch ständig. Plötzlich merkt man zum Beispiel, dass man mit dem neuen Partner – anders als vielleicht abgemacht – doch in die Ferien reisen will.

«Besonders das erste Jahr kann sehr anstrengend sein.»

Wie geht man damit um?

Es ist wichtig, dass man ständig offen über alles spricht. Polyamorie ist nämlich viel mehr, als dass man einfach seine Sexualität frei leben kann. Auch wenn das viele meiner Klient*innen erst meinen.

Das klingt, als wäre Polyamorie zu leben, sehr zeitintensiv.

Ja, man ist immer dran. Besonders das erste Jahr kann sehr anstrengend sein. Erst braucht es sehr viel Mut, um sich einzugestehen, dass man die Beziehung öffnen will. Dann braucht es den ständigen Austausch mit den Partner*innen. Was geht? Was geht nicht? Wo sind die Grenzen? Wo sind meine Grenzen?

Du berätst neben Einzelpersonen auch Paare. Haben diese auch Kinder?

Ja, ich habe sogar schon einmal eine Schwangere beraten. Aber natürlich wird mit Nachwuchs die ganze Sache noch aufwendiger. Die Organisation ist viel grösser. Ich finde es aber wichtig, dass man mit den Kindern ehrlich ist. Sie spüren sofort, wenn der «neue Bekannte» mehr als ein Bekannter ist.