«Prostituierte und Finanzchefs fragen mich um Unterstützung an»
Kurz nach dem Lockdown tauchten in der Stadt Zürich plötzlich viele Plakate auf: Privatpersonen sicherten ihre Hilfe für Einkäufe oder andere Erledigungen zu. Ein bestimmter Zettel hing in fast allen Quartieren: Statt Lieferdienste bot er jedoch «Gratis Life-Coachings» an. Wir wollten wissen, wer hinter diesem Plakat steckt, und haben uns bei Jeff, dem Urheber der Zettel, gemeldet.
Jeff, du arbeitest normalerweise als Coach in einer Praxisgemeinschaft. Diese ist momentan geschlossen. Wie erlebst du den Lockdown bisher?
Eigentlich ganz angenehm. Ich hatte schon vorher das Gefühl, dass sich die Gesellschaft ändern muss. Wir leben in einem System, das zu stark auf das wirtschaftliche Wachstum setzt. Dabei gehen gesellschaftliche und soziale Aspekte verloren. Das machte mir auch die Lektüre des Buchs «Utopien für Realisten» klar. Der Autor Rutger Bregman fordert darin unter anderem eine 15-Stunden-Arbeitswoche sowie das bedingungslose Grundeinkommen. Ich habe den Eindruck, dass der Lockdown solche Gedanken fördert. Durch diese Bewusstseinsveränderung werden die Menschen achtsamer und fokussieren auf das Wesentliche. Das möchte ich unterstützen.
Wer hat bisher dein Coaching-Angebot angenommen?
Am Anfang haben sich nur zwei, drei Leute gemeldet, mittlerweile sind es täglich mehr. Einige Anrufer*innen empfehlen mich bereits ihrem Umfeld weiter. Es sind tendenziell mehr Frauen. Das Alter reicht von Mitte 20 bis über 70 Jahre. Interessant ist auch die soziale Durchmischung: Es hat sich eine Prostituierte, aber auch der Finanzchef einer grösseren Schweizer Firma bei mir gemeldet.
«Das Alter reicht von Mitte 20 bis über 70 Jahre.»
Wollen die Leute über Corona-bedingte Sorgen sprechen?
Nicht unbedingt. Die meisten Anrufer*innen spielten vermutlich schon länger mit dem Gedanken, sich für ein Coaching anzumelden. Sie spüren bereits seit einiger Zeit eine Unzufriedenheit oder eine Blockade. Aber natürlich hinterfragen die Menschen in einer Krisensituation ihr Leben stärker – so zum Beispiel auch die Pflegefachfrau, mit der ich ein Gespräch geführt habe. Sie ist 60 Jahre alt und hat schon seit Längerem kein gutes Verhältnis zu ihrer Tochter.
Wie läuft das Beratungsgespräch ab?
Das Gespräch dauert zwischen 60 und 75 Minuten. Es findet digital und auf Wunsch auch anonym statt. Die Person erzählt. Ich stelle zwischendurch Fragen und gebe am Schluss ein persönliches Feedback. Dank meinem grossen und breiten Erfahrungsschatz kann ich konkrete Tipps geben sowie Ideen und neue Lösungsansätze vermitteln. Ich habe mit Anfang vierzig eine zweijährige Auszeit genommen, um mich intensiv mit dem Thema Persönlichkeitsentwicklung zu beschäftigen. Das hat meine Lebensqualität sehr gesteigert. In dieser Zeit habe ich mich auch intensiv mit Schamanismus auseinandergesetzt. Das fliesst in meine Beratung ein. Sie besteht aus einer Mischung aus Psychologie, Physik, Spiritualität und allem, was ich an Coaching-Schulungen gelernt habe.
Was, wenn man keine zweijährige Auszeit nehmen kann?
Es gibt natürlich auch andere Möglichkeiten, sich selbst besser kennenzulernen. Man kann zum Beispiel ganz simpel seinen Tagesablauf umstellen. Bereits andere Leute, ungewohnte Wege sowie ein neues Hobby oder Literatur sorgen für neue Impulse und Gedankenansätze. Wenn sich etwas im Kleinen verändert, hat das oft Auswirkungen auf alle Lebensbereiche.
«Natürlich hinterfragen die Menschen in einer Krisensituation ihr Leben stärker.»
Wie erklärst du das?
Ich glaube an das Gesetz der Resonanz: Gleiches zieht Gleiches an. Wenn man beispielsweise frisch verliebt ist, erlebt man oft auch andere schöne und erfolgreiche Dinge. Wenn man dagegen niedergeschlagen ist, zieht man oft auch weitere negative Situationen und Menschen an. Für mich hat das aber auch mit dem eigenen Bewusstsein und somit der Einstellung zu tun: Sehe ich etwas als Problem oder als Herausforderung? Also als etwas, unter dem ich zu leiden habe – oder als etwas, das ich meistern kann und will?
Blickst du so auch auf die Corona-Krise?
Ja. Natürlich fürchten die Menschen die Folgen des Lockdowns. Aber ich merke auch, dass es wieder mehr Lebensfreude gibt. Die Solidarität nimmt zu, das Gemeinschaftsgefühl wird gestärkt. In den letzten Jahren sorgte die Globalisierung für ein grosses Wirtschaftswachstum. Viele befanden sich in einem Hamsterrad. Dieses stoppt jetzt. Und man hat einen Moment Zeit, um zu überlegen: Was ist mir wirklich wichtig in meinem Leben?