«Wir wollten uns nicht vertreiben lassen»
Seit über vierzig Jahren lebt Hannes Lindenmeyer an der Hellmutstrasse. Jetzt hat er ihre lange Geschichte aufgeschrieben – von den Römern bis zu den Unruhen in den 80er Jahren und zum heutigen Alltagsleben im Kreis 4.
Du hast dein Leben entlang der Tramlinie 8 verbracht. Welche ist deine Lieblingsstation?
Die Bäckeranlage. Dort wohne ich auch seit über vierzig Jahren. Aufgewachsen bin ich aber beim Römerhof. Ich habe das Schulhaus Ilgen besucht. In meiner Klasse gab es auch Kinder vom Kreuzplatz und vom Zürichberg. Ich lernte also schon früh die Klassengesellschaft kennen. Denn am Kreuzplatz wohnten damals die einfachen Arbeiter, am Römerhof die Mittelschicht und am Zürichberg die Gutbetuchten. Als Jugendlicher hat mich die Stadt ennet der Sihl immer stärker fasziniert.
Wieso?
Ich wollte wissen, was an der Langstrasse und in den Hinterhöfen passiert. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre fanden dort auch politische Bewegungen statt, und Lokale wie das alte Restaurant Sonne oder das Volkshaus gewannen an Bedeutung. Schliesslich erhielt ich die Gelegenheit, nach Aussersihl zu ziehen, und bin geblieben. Ich habe die grosse Veränderung des Stadtteils also hautnah miterlebt.
In deinem Buch über die Hellmutstrasse schreibst du, dass du mit deinem Umzug auch Teil der Gentrifizierung geworden bist.
Natürlich! 1973 herrschte in der Schweiz die erste grosse Arbeitsmarktkrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Saisonarbeiter aus dem Süden verloren ihre Stelle und wurden nach Hause geschickt. Die frei gewordenen Wohnungen wurden von Studenten, Wohngemeinschaften und jungen Menschen bezogen. Das Arbeiter- und Armenviertel wandelte sich so zu einem Intellektuellen- und später zu einem Trendviertel. Von Gentrifizierung sprach aber noch niemand.
Sondern?
Das grosse Thema war die City-Bildung gewesen. In den 50er und 60er Jahren war das Gebiet um den Bahnhof und die Sihlporte stark gewachsen. Man brauchte mehr Platz. Auf der anderen Seite der Sihl gab es noch günstige Grundstücke. Es gab deshalb immer wieder den Plan, Aussersihl platt zu machen und darauf die Geschäftscity zu erweitern. In den 70er Jahren wollten wir das verhindern. Erfolgreich setzte sich die Bevölkerung zum Beispiel gegen die U-Bahn ein, weniger erfolgreich gegen das Bauprojekt HB-Südwest – dort, wo heute die Europaallee fertiggestellt wird – viermal so gross wie das einstige Projekt.
«Es gab immer wieder den Plan, Aussensihl platt zu machen.»
Auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Hellmutstrasse haben sich immer wieder gewehrt. Was waren ihre grössten Erfolge?
Die Banken und Geschäftshäuser brauchten in den 70er Jahren mehr Telefonkapazität. Deshalb hätte bei der Bäckeranlage ein grosses Telefonzentrum gebaut werden sollen. Die Bürgerlichen und die SP waren dafür. Doch die damalige BGB, die heutige SVP, und die Maoisten schlossen sich zusammen und bekämpften den Plan. In der SP fand in dieser Zeit ein Linksrutsch statt; mit ihrer Unterstützung gelang es, das Anliegen in den Bundesrat zu bringen, der es schliesslich im letzten Moment stoppte. Wäre das Zentrum gebaut worden, würde es noch heute das Stadtbild prägen – und mittlerweile halb leer stehen.
Was haben sie sonst noch erreicht?
Die Stadt plante, bei der Bäckeranlage eine Wohnsiedlung für Besserverdienende zu bauen. Die 80er-Bewegung wollte es nicht und hat sich für den Erhalt der Häuser und deren genossenschaftliche Nutzung eingesetzt. Letztes Jahr hat man die Altbauten, die 1978 noch als Abbruchliegenschaften galten, für weitere dreissig Jahre neu renoviert. Das war auch deshalb ein nachhaltiger Erfolg, weil es noch heute das Verbleiben im teuer gewordenen Quartier und das Zusammenleben verschiedener Menschen sichert.
Heute kämpfen Leute auch gegen den Abriss ihrer Wohnhäuser. Was können sie von den Helmi-Bewohnern lernen?
Dass man Veränderungen in seinem Quartier aktiv beobachten sollte, sich zusammentut und nach Möglichkeiten sucht, wie die Lebensqualität erhalten und verbessert werden kann. Man darf Veränderungen nicht einfach telquel akzeptieren, sondern soll seine eigenen Vorstellungen einbringen. Interessante aktuelle Beispiele sind das Binz- und das Kochareal. Zwar sind diese Besetzungen teilweise illegal, sie können die Stadtentwicklung aber wesentlich beeinflussen – allerdings auch im Sinne der Gentrifizierung: als Vorboten eines neuen Trendquartiers, wie das Beispiel Altstetten zeigt.
«Man darf Veränderungen nicht einfach akzeptieren.»
Du hast auch mit verschiedenen jüngeren Menschen gesprochen. Wie reagieren sie auf die Veränderungen des Quartiers?
Viele erzählten mir, dass sie nicht mehr in Aussersihl wohnen möchten. Sie würden Schlieren oder Altstetten vorziehen. Sie denken, dass dort eine lebendige Kultur am Kommen ist. Aussersihl ist ja mittlerweile viel zu teuer, alles wurde kommerzialisiert, insbesondere die Clubs, die ursprünglich im Untergrund entstanden sind. Heute geht dort die halbe Schweiz in den Ausgang und setzt jedes Wochenende Millionen um.
Wie hast du die Entwicklungen in deinem Quartier wahrgenommen?
Veränderungen passieren schleichend. Freunde und Nachbarn ziehen aus, Läden verschwinden, und Häuser werden umgenutzt oder abgerissen. Richtig bewusst wird es einem erst, wenn man mit anderen zusammensitzt und Erinnerungen austauscht – oder wie ich ein Buch schreibt. Ich versuche auch, zu zeigen, wie sehr sich die Lebensverhältnisse verändert haben. Heute sitzen in den ehemaligen Schreinerwerkstätten und Gemüseläden Leute am PC.
«Heute sitzen in den ehemaligen Schreinerwerkstätten und Gemüseläden Leute am PC.»
Hast du dir nie überlegt, wegzugehen?
Mittlerweile bin ich zu alt. Aber es gab natürlich auch schwierige Zeiten, vor allem, als der Platzspitz geräumt wurde. Aber ich fühlte mich mit dem Quartier zu stark verbunden, als dass ich mich einfach absetzen konnte. Wir wollten uns nicht vertreiben lassen.
Wie wird sich Aussersihl weiter verändern?
Früher gab es nur das Stundenhotel Gregory, heute strömen am Wochenende Touristen aus aller Welt durch die Gassen. Vermutlich passiert das gleiche wie in der Altstadt – das Niederdorf wurde ja auch fast zur Kulisse. Trotzdem gibt es natürlich da wie dort noch das echte Leben.
Adresse
Kanzlei Club
Kanzleistrasse 56
8004 Zürich
Infos
Am Mittwoch, 29. August, findet im Kanzlei Club die Buchvernissage statt von «Hellmut – lange Geschichte einer kurzen Strasse» (Rotpunktverlag; 256 Seiten, 170 Abbildungen; 42 Fr.). Der Anlass beginnt um 19.30 Uhr und kostet keinen Eintritt.
Hannes bietet auf Anfrage auch Führungen durch den Kreis 4 an. Weitere Infos findest du hier.