Kultur & Nachtleben | Nachtleben-Kolumne
Das Zürcher Nachtleben zwischen Euphorie und Unsicherheit
Die Partygänger sind erleichtert. Seit Anfang Juni können sie wieder feiern – wenn auch unter strikten Auflagen und nur bis 24 Uhr. Unser Nachtleben-Kolumnist schreibt, was das für die Clubs bedeutet.
Seit vorletztem Wochenende darf in Zürich wieder Party gemacht werden – wenn auch mit Auflagen (siehe unten). Dieser Bundesratsentscheid hat das Zürcher Nachtleben überrumpelt. Nicht mal in den kühnsten Träumen hatte man sich ausgemalt, schon im Juni wieder gemeinsam zu tanzen. Das Tempo, welches keine Rücksicht auf die Realitäten der Musikkultur nimmt, sowie die der Öffnung zugrunde liegenden Rahmenbedingungen dämpfen allerdings die Euphorie. Dabei haben verschiedene nationale Verbände aus dem Musikveranstaltungsbereich (SBCK – Schweizer Bar und Club Kommission, SMPA – Swiss Music Promoter Association, Petzi – Dachverband der nicht gewinnorientierten Musikclubs und Festivals sowie Diagonales Jazz) mehrfach darauf hingewiesen, dass bei einem Exit-Plan auch auf inhaltliche Aspekte und wirtschaftlich vertretbare Bedingungen geachtet werden muss. Das Nachtleben ist keine Maschine, die so einfach ein- und abgeschaltet werden kann.
Es sind wirtschaftliche, aber auch moralische Fragen.
Die bürgerlichen Parteien fordern eine sofortige Lockerung, während das Bundesamt für Gesundheit die Pandemie weiterhin in Schach halten muss. Daraus resultiert ein Kompromiss, der das Zürcher Nachtleben nicht nur wirtschaftlich, sondern auch moralisch vor grosse Herausforderungen stellt. Dabei spielen auch die Entwicklungen im Ausland eine wichtige Rolle: Selbst wenn in der Schweiz alle Veranstaltungen wieder stattfinden könnten, befänden sich aufgrund der globalen Covid-19-Pandemiesituation zu wenig Bands und DJs auf Tourneen. Alleine mit Schweizer Künstler*innen lässt sich die Nachfrage nicht decken – oder wer möchte schon zehn Mal hintereinander die gleiche Band oder dieselben DJs sehen?
Die Partyszene kämpfte bereits vor Corona um ihr Image. Aussenstehende blicken skeptisch auf Spass und Ekstase und werfen der Szene Lärm, Abfall und Drogen vor. Bei einer zweiten Welle wäre in der Öffentlichkeit wohl schnell ein Sündenbock gefunden. Die Berichte über die Ansteckungen in Bars und Clubs in Ischgl und Seoul sind noch für viele sehr präsent. Es ist natürlich auch den Bar- und Clubbetreiber*innen bewusst, dass eine Indoor-Veranstaltung, an welcher die Menschen sich näherkommen, tanzen und singen, ein Risiko für die Verbreitung des Virus darstellt. Als Clubbetreiber*in stellt sich die Frage, ob es überhaupt verantwortbar ist, eine Tanzveranstaltung unter den gegebenen Umständen durchzuführen.
Doch neben der Moral geht es auch um die Wirtschaftlichkeit. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen ist es praktisch unmöglich, einen Club kostendeckend zu führen. Die meisten Clubs weisen ein grösseres Fassungsvermögen auf und praktisch alle Veranstaltungen werden normalerweise von mehr als 300 Personen im Durchlauf besucht. Die Polizeistunde um 24 Uhr limitiert die Betriebszeiten massiv; normalerweise sind Musikclubs zwischen 23 und 6 Uhr in der Früh geöffnet, Peaktime ist jeweils von 1.30 bis 4 Uhr. Ein Nachtleben bis Mitternacht ist vergleichbar mit einem Fondue ohne Käse. Denn gerade die Dunkelheit ist Teil des kulturellen Freiraums und somit integraler Bestandteil des Gesamtangebots. Es ist naiv zu denken, dass die Menschen nun einfach am Tag feiern wollen. Dabei stehen Day-Partys auch noch in unnötiger Konkurrenz mit Freizeiteinrichtungen wie Museen, Kinos und Restaurants, die allesamt auch unter der Corona-Krise gelitten haben. Es überrascht nicht, dass die Clubs und Bars in der Stadt Zürich zwischen 50 und 75 Prozent weniger Umsatz erzielen als in einer vergleichbaren Woche vor der Covid-19-Pandemie. Gerade in denjenigen Schweizer Städten, in denen die Marge jeweils nur wenige Prozent beträgt, ist eine Wiedereröffnung unter diesen Gegebenheiten nichts anderes als ein Verlustgeschäft. Viele Betriebe, vor allem Clubs, sind deshalb weiterhin geschlossen.
Day-Partys leiden unter einer unnötigen Konkurrenz.
Diese Realität des Zürcher Nachtlebens steht im grossen Widerspruch zum Entscheid des Seco, die erweiterte Kurzarbeit für Gesellschafter per 1. Juni 2020 aufzuheben. Begründet wurde diese Kürzung damit, dass ja nun alle Unternehmen wieder ihre Tätigkeit aufnehmen können. Diese Annahme stimmt so für das Nachtleben in der Schweiz nicht! Dieser Entscheid ist nichts anderes als eine Ohrfeige für all jene KMU, die aufgrund der Covid-19-Schutzmassnahmen ihren Betrieb noch nicht aufnehmen können. Es findet eine Delegation auf die Ebene der Gemeinde statt und es wird in Kauf genommen, dass Betriebe aufgrund des Öffnungsdrucks schleichend Konkurs gehen und den Selbstständigen sowie Gesellschaftern am Schluss nur noch der Gang zum Sozialamt übrig bleibt.
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Dabei ist die Schweiz das erste Land Europas, in dem überhaupt wieder getanzt werden darf. Der Nachholbedarf ist gross. Die Bilder der letzten Wochenenden aus den Ausgangsmeilen in Bern, St. Gallen und Zürich zeigen, wie systemrelevant das Nachtleben nicht nur für junge Menschen ist. Die grossen Profiteure sind wieder einmal die 24-Stunden-Shops: Dort trinken die Nachteulen nach Mitternacht ohne Schutzkonzept munter weiter. In der ganzen Wiedereröffnungseuphorie darf nicht vergessen werden, dass es Monate dauern wird, bis in der Veranstaltungsbranche wieder so was wie ein Normalzustand einkehrt.
Finanzielle Unterstützung in Form von Kurzarbeit und Entschädigungen für Kulturunternehmen sind unabdingbar, um einen kulturellen Kahlschlag zu verhindern. Grosse Hoffnung setzt das Nachtleben in die Corona-Tracing-App, würde sich dadurch doch die Registrationspflicht erübrigen. Zudem würde die potenzielle Ansteckungskette auf die tatsächlich engen Kontakte begrenzt. Auch wenn aus dem Dunkel der Nacht leise wieder eine Melodie erklingt, wird das Zürcher Nachtleben noch lange mit den Folgen der Corona-Krise zu kämpfen haben. Doch freuen tut man sich jetzt schon über jeden Gast.
Das sind die aktuellen Bestimmungen
Seit Samstag, 6. Juni 2020, sind in der Schweiz Veranstaltungen bis 300 Personen wieder möglich. Das vorgelegte Rahmenschutzkonzept des Bundes gibt vor, dass die Distanzregel prinzipiell auch an Veranstaltungen umgesetzt werden soll. Hier gelten als Richtgrösse 4 Quadratmeter pro Person, inklusive Abstand zwischen den Personengruppen. Bei bestuhlten Locations ist mindestens ein Sitz zwischen den Gruppen freizuhalten. Doch der Bund sieht auch Ausnahmen vor. Falls die Distanzregel nicht eingehalten werden kann und es zu einem engen Kontakt zwischen einander nicht bekannten Personen kommt, gilt eine Maskentragepflicht (Hygienemasken). Ist es nicht möglich, eine solche durchzusetzen, müssen alle Kontaktdaten der Gäste gesammelt werden. Das Risiko besteht, dass bei einem potenziellen Ansteckungsrisiko alle an dieser Veranstaltung anwesenden Gäste in die Quarantäne müssen. Der Veranstalter ist verpflichtet, seine Gäste über dieses Risiko zu informieren (Disclaimer), damit diese sich somit bewusst sind, dass der Besuch der Veranstaltung für sie im Worst Case mit einer Quarantäne enden kann. Da die Polizeistunde weiterhin schweizweit gilt, ist bei allen öffentlichen Veranstaltungen um Mitternacht Schluss.