«Ich bin jedes Mal überwältigt»
Der Kulturschaffende Stefan Tschumi hat sein Hobby zum Beruf gemacht. Nun stellt der 33-Jährige zum dritten Mal einen Teil seiner Arbeiten an der Photo Schweiz aus. Wir haben mit dem Zürcher über sein Drag-Queen-Projekt, seine Leidenschaft fürs authentische Fotografieren und die Auftragsflaute im Januar gesprochen.
Stefan, du bist mit deinen Arbeiten zum dritten Mal an der Photo Schweiz vertreten. Was zeigst du dieses Jahr?
Ich zeige eines meiner Lieblingsprojekte, einen Spaziergang von Drag Queens durch das Langstrassenquartier. Es geht mir darum, in unserer heteronormativen Gesellschaft Sichtbarkeit zu schaffen: Die Leute sollen sehen, dass es diese Kunstform «Drag» gibt, dass es Menschen gibt, die Geschlecht als etwas Fluides anschauen und damit spielen. Ich finde es gut, wenn Rollenbilder aufgebrochen werden.
Was bedeutet dir die Ausstellung?
Ich bin jedes Mal von Neuem überwältigt, wenn ich die Photo Schweiz besuche, und ich brauche jeweils mehr als einen Tag, um mir alles anzusehen. Auf die neuen Locations bin ich deshalb sehr gespannt – früher waren es unzählige weisse Kuben, auf denen die Fotos ausgestellt waren. Und natürlich freue ich mich, auch selbst wieder auszustellen – die letzten Male waren 2014 und 2015. Es waren zwei sehr unterschiedliche Projekte, und was ich jetzt ausstelle, ist wieder etwas ganz anderes.
«Die Leute sollen sehen, dass es diese Kunstform ‹Drag› gibt.»
Was, wenn ich nicht wirklich an Fotografie interessiert bin?
Sollte ich die Photo Schweiz trotzdem besuchen? Auf jeden Fall. Jeder Ausstellungsbesuch lohnt sich. Ausserdem glaube ich, dass es niemanden gibt, der nicht bildorientiert ist: Der Mensch ist ein visuelles Wesen. Unsere ganze Gesellschaft ist bildorientiert – man denke nur an Instagram oder die Werbebranche – und die Photo Schweiz ist ein zeitgenössisches Abbild davon.
Wie würdest du deine Arbeitsweise beschreiben?
Ich arbeite meistens sogenannt «dokufiktional». Das heisst, ich gehe hin und nehme alles so, wie es ist: Wenn es regnet, dann regnet es halt. Ist es schönes Wetter, ist es eben schönes Wetter. Haben die Schauspieler schlechte Laune, dann haben sie eben schlechte Laune. So wirken die Fotos oder Videos auch authentisch und nicht erzwungen. Denn gerade bei Kampagnen will ich Nähe schaffen, damit man sich mit dem Material identifizieren kann. Aber natürlich arbeite ich manchmal auch komplett fiktional.
Wie bist du zur Fotografie gekommen?
Den Ärmel reingenommen hat es mir in meinem Bachelor in Art Education mit Vertiefung Medien. Ich habe gemerkt, dass mich von allen künstlerischen Medien die Fotografie und der Film am meisten interessieren. Über eine Bekannte konnte ich mit diversen Musikacts zusammenarbeiten, unter anderem mit Faber, Al Pride, Hecht und Baba Shrimps. Dadurch bin ich bekannter geworden und kann jetzt als Selbstständiger von Kunst, Fotografie, Film und gelegentlicher Lehrtätigkeit leben.
Was liebst du an deinem Beruf?
Ich liebe es, neue Leute kennenzulernen. Und kein Projekt ist gleich: Man muss zu Beginn das Potenzial immer wieder neu rausschälen und die Herangehensweise definieren, das ist enorm spannend. Dank meinem Beruf habe ich ein spannendes Leben – ich könnte nicht den ganzen Tag im Büro Zahlen eintippen oder Analysen machen, das wäre mir schnell langweilig. Ich muss alle paar Monate wieder etwas Neues machen, und mit der projektorientierten Arbeit in meiner Branche kann ich das. Dafür bin ich sehr dankbar.
«So wirken die Fotos nicht erzwungen.»
Was sind die Schattenseiten des Berufs?
Es gibt anfangs Jahr immer eine Art «Auftragsloch»: Die Weihnachtsaufträge sind abgeschlossen, die Frühlingskampagnen werden des Lichts wegen schon im Herbst realisiert und die Sommerkampagnen werden erst im Frühling gebucht. Die ganze Branche befindet sich sozusagen im Winterschlaf. Zu Jahresbeginn sollte man also einfach Ferien machen.
Du filmst auch. Welche Unterschiede von Fotografie und Film faszinieren dich?
Pragmatisch gesehen handelt es sich ja bei beiden um Kameraarbeit. Die Medien sind sich also ziemlich ähnlich schon nur wegen des ganzen Themas Licht. Und man kann zum Beispiel auch sehr fotografisch, sprich sehr statisch filmen. Doch selbstverständlich kann ein Fotograf nicht automatisch auch super filmen – zum Beispiel bei Kamerafahrten hört es auf. Für die ganzen cinematischen Mittel braucht es entsprechende Weiterbildungen.
Machen das viele?
Auf jeden Fall. Es wird immer wichtiger, dass Fotografen beides können: Die Kampagnen werden immer ganzheitlicher, es sollen oft auch gleich passende Instagram-Videos oder Fernseh-Spots gedreht werden. Deshalb mögen es die Agents, wenn alles von derselben Person kommt – so trägt alles eine einheitliche Handschrift.
Adresse
Halle 622 & StageOne
Therese-Giehse-Strasse 10 & Elias-Canetti-Strasse 14
8050 Zürich
Info
Die Photo Schweiz gehört mit fast 30’000 Besucherinnen und Besuchern zu den wichtigsten und grössten Werkschauen für Fotografie in Europa. Von Freitag, 10. Januar, bis Dienstag, 14. Januar, zeigen über 300 Schweizer Fotografen und Fotografinnen auf rund 7000 Quadratmetern ihre liebsten Bilder des Jahres. Mehr Infos gibt es hier.