LGBT-Kolumne | Menschen & Leben
Mehr als Genitalien
Anna Rosenwasser schreibt, wie sie in Zürich lebt und liebt. Dieses Mal fordert die Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz: Mach dir ganz genau bewusst, wieso du jemanden heiss findest.
Es war eigentlich zu kalt, um in der Pause rauszugehen, aber die Luft an dieser LGBT-Tagung war stickig und ich brauchte etwas Ruhe. Ich fand sie nicht. Dafür ein Gespräch, das mich noch wochenlang beschäftigen wird.
Pirmin zündete sich gerade eine Zigarette an, als ich rauskam. «Hey», sagte er mit einem müden Lächeln; wir kennen uns seit Jahren aus dem queeren Aktivismus. «Gutes Meme gestern», sagte er. Ich musste kurz hirnen. Ich hatte ein Meme gepostet darüber, dass es transfeindlich ist, wenn man davon ausgeht, dass alle Frauen die gleichen Genitalien haben. «Es gibt noch immer so viele Homos, die keine trans Leute daten würden», sagte Pirmin. Er rollte dabei mit seinen Augen und blies gleichzeitig Zigarettenrauch raus, wie ein kleiner schwuler Drache.
Sie will keine trans Frau daten.
«Was ist daran falsch?», fragte da jemand Drittes. Pirmin und ich sahen auf. Zu uns hatte sich eine Tagungsteilnehmerin gesellt; ich kannte sie vom Sehen her. «Na, so zu tun, als gäbe es keine Frauen mit Penis, ist halt transfeindlich», erklärte Pirmin, bevor er einen letzten Zug nahm. Die Frau runzelte die Stirn.
«Also bin ich auch transfeindlich, weil ich als Lesbe keine trans Frau daten würde?», fragte sie angriffig. Pirmin legte seinen Kopf leicht schräg, sah sie direkt an und sagte: «Ja.» Dann liess er seine fertig gerauchte Zigi zu Boden fallen und machte sie mit dem Fuss aus. Er sah mich noch rasch an, während er den Stummel aufhob, und verschwand dann.
Meine Gedanken kreisten weiter.
Nun stand ich allein da mit dieser Frau, die innert Sekunden sehr wütend geworden war. «Das ist nicht transfeindlich! Ich darf doch attraktiv finden, wen ich will! Ich muss trans Frauen nicht attraktiv finden!», schimpfte sie, halb zu mir, halb zu sich selbst. «Findest du das auch transfeindlich?!» – «Nein», sagte ich ruhiger, als ich mich fühlte, «das macht dich nicht transfeindlich. Aber …» An der Tür des Tagungszentrums rief uns jemand rein. Die Pause war vorüber. Die Wut dieser Frau nicht. Und meine Gedanken auch nicht.
Manchmal habe ich zu tun mit Leuten, die mir strahlend verkünden: «Ich bin weder hetero noch homo. Ich verliebe mich nicht ins Geschlecht. Ich verliebe mich in Menschen!», und ich finde das weniger schön, als viele vielleicht erwarten würden. Denn: Wir verlieben uns alle in Menschen. Nicht ins Geschlecht. Egal, welche sexuelle Orientierung wir haben.
Würden wir rein vom Geschlecht einer Person angezogen, würden heterosexuelle Frauen jeden Mann heiss finden. Und Lesben jede Frau. Und wir Bisexuellen jeden Menschen ever. Gott, wäre das anstrengend. Aber wenn wir nicht primär das Geschlecht heiss finden, sondern den Menschen: Warum gibt es dann ganz viele Leute, die trans Personen ausschliessen? Wegen der Genitalien, lautet häufig die Antwort.
Dann würde ja jede Lesbe jede Frau anziehend finden.
Aber erstens: Wir fühlen uns doch nicht nur zu Geschlechtsteilen hingezogen. So eindimensional ist Anziehung nicht. An jedem Körperteil ist ja noch ein ganzer Mensch dran. Zweitens: Wir sehen einer Person nicht an, welche Genitalien sie hat. Was für ein unhöflicher Gedanke. Drittens haben übrigens auch trans Personen unterschiedliche Genitalien, die uns genauso lange nichts angehen, bis wir die Ehre haben, damit konsensuell in Kontakt zu kommen.
Gleichzeitig hat uns niemand zu befehlen, zu wem wir uns hingezogen fühlen sollten und zu wem nicht. Und steuern können wir‘s auch nicht. (Die Welt wäre ein einfacherer Ort, wenn wir kontrollieren könnten, wen wir attraktiv finden.)
Was ich verlange, ist etwas anderes: Machen wir uns bewusst, dass Attraktivität eine Geschichte hat. Wen du heiss findest, hat nicht nur mit dir alleine zu tun. Sondern mit der Welt, in der du aufwächst. Mit der Welt, die dir sagt, was als schön gilt und was nicht. Mit einer Welt, die uns wenig beibringt über Anziehung und noch weniger über trans Identitäten.
Ich schauderte. Es war wirklich zu kalt für eine Pause draussen. Ich ging wieder rein. Und wusste: Diese Frage war noch nicht zu Ende gestellt.