Menschen & Leben

«Die Erkenntnisse können auch befreien»

Interview: Eva Hediger

Endlich wieder Alltag, endlich wieder so etwas wie Normalität. Doch nicht alle können sich darüber freuen. Was, wenn der Lockdown für eine Lebenskrise gesorgt hat? Der diplomierte psychologische Berater Markus Brühwiler sagt, wie es weitergehen kann.

Die Sperrstunde wurde aufgehoben, die Badis sind geöffnet und die Homeoffice-Empfehlung gilt nicht mehr. Es herrscht also – fast – wieder Normalität, oder?

Es scheint zumindest so. Doch viele Menschen hatten mit der aussergewöhnlichen Corona-Situation stark zu kämpfen. Durch den Lockdown konnten sie ihre sozialen Kontakte nicht wie gewohnt pflegen und fühlten sich teilweise isoliert oder gar eingesperrt. Auch fiel die bewährte Routine weg und plötzlich lief das Leben nicht mehr auf Hochtouren. Das hat viele auf sich selbst zurückgeworfen und ein zunehmend ungutes Gefühl ausgelöst. Sie stellten sich Fragen, die sie vorher vielleicht verdrängt hatten.

Zum Beispiel?

Einige merkten, dass sie mit ihrem aktuellen Leben nicht wirklich zufrieden sind. Dass sie beispielsweise ihren Job nicht mehr weiter ausüben oder ihre Beziehung nicht mehr fortführen möchten. Manche wurden von der Vergangenheit eingeholt und alte, belastende Themen kamen an die Oberfläche. Doch eigentlich alle, die zu mir in die Praxis kommen, sagen: «Corona hatte auch seine guten Seiten.»

Die wären?

Not macht erfinderisch und eine Krise bringt einiges in Bewegung. Viele haben neue Leidenschaften oder Fähigkeiten entdeckt – zum Beispiel Kochen oder das Joggen im Wald. Viele haben auch die Zeit und Nähe mit der Familie genossen. Plötzlich merkte die Gesellschaft: Es geht auch ohne ständige Termine und übermässigen Konsum. Solche Erkenntnisse können sehr befreiend und eben eine echte Chance sein.

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Jetzt sind Apéros, Geburtstagsfeste und gemeinsame Abendessen wieder möglich. Was raten Sie Leuten, die merken, dass ihnen dies zu viel wird?

Wir Menschen sind selbstbestimmt. In sämtlichen Lebensbereichen kann man sich fragen: Welche Erkenntnisse kann ich aus der Corona-Zeit mitnehmen? Wenn jemand zum Beispiel merkt, dass ihn viele Verabredungen stressen, dann steht es ihm frei, diese weiterhin zu reduzieren. Schliesslich haben wir jetzt erfahren, dass eine besondere Qualität in der Ruhe und somit in weniger sozialen Verpflichtungen liegen kann.

Man stösst doch sein Umfeld vor den Kopf, wenn man regelmässig Einladungen ausschlägt ...

Wenn man nicht mehr am Geburtstag der besten Freundin auftaucht, muss man sich natürlich schon fragen, ob man sich nicht zu sehr zurückzieht. Das wäre ungesund. Der Mensch ist ja schliesslich ein soziales Wesen und die Begegnung und der Austausch mit anderen sind sehr wichtig. Er braucht Freundschaften.

«Es geht auch ohne ständige Termine und übermässigen Konsum.»

Aber?

Wenn man eine Feier nur aus einem Pflichtgefühl heraus besucht, dann sollte man Prioritäten setzen und lernen, Nein zu sagen. Warum nicht dem Gastgeber vorschlagen, dass man sich ein anderes Mal zu zweit trifft, wenn man mehr Zeit füreinander hat? Natürlich ist das eine Herausforderung, gut auf sich selbst zu hören und seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Doch genau dieser Kontrast zwischen dem Lockdown und dem «Normalbetrieb» gibt die Möglichkeit, seine Bedürfnisse zu erkennen.

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Das Verhalten zu verändern, fällt auch bei Gewohnheiten schwer. Was raten Sie?

Jede Person besitzt ganz individuelle Fähigkeiten, die sie nutzen kann. In erster Linie helfen sicherlich vertrauensvolle Gespräche und sich mit seinen Schwierigkeiten nicht zu verstecken. Wenn jemand zum Beispiel gerne schreibt, kann er seine Erfahrungen oder Ziele in einem Tagebuch festhalten.

Schreibmuffel werden das nicht lange durchziehen können ...

Ich persönlich finde das Erstellen eines Vision Board toll. Denn aufgehängte Bilder und vielleicht ein motivierender Satz können einen immer wieder daran erinnern, was man in seinem Leben ändern oder erreichen möchte. Das ist wichtig – vor allem, weil der Mensch halt oft auch bequem ist. Netflixen und in den alten Trott zu fallen ist viel einfacher, als eine Veränderung aktiv anzustreben und auch dranzubleiben.

«Corona wird noch lange für Gesprächsstoff sorgen.»

Denken Sie also, dass Corona die Menschen respektive die Gesellschaft nicht langfristig verändern wird?

Pessimisten würden jetzt antworten: Es wird bald wieder so sein wie vorher. Selbst wenn eigentlich alle gesehen haben, dass die Entschleunigung auch dem Klima guttat. Plötzlich konnte man in China wieder den zuvor von Smog verhangenen Himmel sehen und in den Kanälen von Venedig sind Delfine geschwommen. Doch die Wirtschaft ist auf Gewinn und Wachstum ausgelegt. Und wer möchte schon finanziell kürzertreten?

Und wenn man positiver denkt?

Wir haben eine historisch einzigartige Zeit erlebt. «Corona 2020» wird in Erinnerung bleiben und noch lange für Gesprächsstoff sorgen. Wir können uns immer wieder die guten Auswirkungen in Erinnerung rufen – zum Beispiel, wie solidarisch die Gesellschaft durch Nachbarschaftshilfe und neue Projekte wurde oder dass auch einfache Dinge viel Freude bereiten konnten. Das rate ich besonders auch der jungen Generation. Sie erlebt eine Krise nach der anderen. Doch wir hatten noch nie so viele Möglichkeiten wie heute: Wir leben in einem sicheren Staat, unser Gesundheitssystem ist hervorragend und wir können uns für die Umwelt oder andere Anliegen einsetzen.

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Markus Brühwiler ist diplomierter psychologischer Berater. In seiner Praxis im Kreis 5 hilft er unter anderem Menschen, die an beruflichen Problemen leiden oder die sich in einer Lebenskrise befinden.