Sharing Dishes – erst am Trenden, jetzt am Enden?
Die Sharing Economy mit öffentlichen Autos und Trottis löste in den Restaurants den Trend zu Sharing Dishes aus. Doch irgendwann reicht es jetzt aber dann mal, findet unser Gastro-Kolumnist. Er will sein Essen ohne Futterneid geniessen können.
Kürzlich driftete ein lebhaftes Tischgespräch in Richtung aktuelle Kulinarik-Trends ab und wir touchierten das Thema Sharing Dishes. «Ich mag es nicht, wenn sich alle aus dem gleichen Teller bedienen müssen!», sagte eine meinungsstarke Kollegin. «Mir ist daran gelegen, einen eigenen Teller zu haben und ihn selbst leer zu essen.» Natürlich redete sie vom derzeit beliebten Konzept der Sharing Plates: Speiselokale, in denen die Teller in die Mitte des Tisches gestellt werden.
Man setzt sich in ein Lokal und hat sich nichts zu sagen – also redet man halt übers Essen.
Tapas und deren libanesisches Gegenstück Mezze verhalfen dem Konzept Sharing Dishes zum Erfolg, indem sie Hemmschwellen abbauten. Das Teilen via Platzierung der Teller in der Tischmitte stellt Intimität und Gemütlichkeit her, als wäre man in den Ferien am Mittelmeer. Gastro-Konzepter merkten bald: Es entsteht familiäre, entspannte Stimmung, wenn man Gäste dazu bringt, sich aus den grossen Tellern selbst zu bedienen. Sharing erzeugt demnach eine künstliche Emotion – als guter Protestant und Freund der Sachlichkeit lehne ich sowas erst einmal ab. Diese Art des Services hat viel zu tun mit der Eventisierung des Essens. Man setzt sich in ein Lokal und hat sich nichts zu sagen – also redet man halt übers Essen, während man zu zweit in einem Onsen-Ei herumspachtelt. (Notiz am Rand: Liebe Freunde in den Küchen! Streicht das Onsen-Ei an Kartoffel-Sellerie-Schaum mit ein bisschen Grün von den Karten! Wir haben’s echt gesehen.) Gemeinsam essen zu gehen, sollte nämlich nicht ausschliesslich Essen zum Thema haben, sondern die Beziehungen der Menschen am Tisch.
Futterneidige Kinder fügen dem Ganzen einen besonders gemeinen Twist hinzu.
Wenn ich mit jemandem, der nicht gerade meine Gemahlin oder mein bester Freund seit Kindertagen ist, aus dem gleichen Teller esse, fühle ich mich deshalb meist fehl am Platz. Futterneidige Kinder fügen dem Ganzen einen besonders gemeinen Twist hinzu. Weiters macht es mich unglücklich, wenn das betreffende Lokal eng gestuhlt ist oder wenn ich mit Fremden an einem langen Tisch sitzen muss, während ich mit meinem Gegenüber Speisen teile. Ab diesem Punkt fühlen sich Sharing-Konzepte nicht mehr richtig an, da kann die Kulinarik noch so gediegen sein.
Sehr ungediegen finde ich auch einen Satz, von dem ich so genug habe wie von Onsen-Eiern: «Um satt zu werden, solltet ihr pro Person vier der kleinen Gerichte bestellen.» Und klar, jedes der vier Gerichte kostet zufälligerweise um die 20 Franken, sodass ich beim Dinner zu zweit – kommen noch Apéro und Wein dazu – knapp unter die Dreihundert-Franken-Grenze zu liegen komme. Es erweckt in mir den Verdacht, dass das Sharing-Konzept darauf angelegt ist, mehr Umsatz zu machen als mit konventioneller Restauration. Oft beschlich mich auch das leise Gefühl, Sharing-Konzepte dienten eher der kulinarischen Selbstverwirklichung des Küchenchefs denn der Freude der Gäste; nach vier unterschiedlichen Gerichten habe ich meist keine klare Erinnerung ans ganze Dinner mehr.
Wenn ich weiss, wo es einen tollen Teller gibt, dann will ich ihn gerne selbst leer essen.
Der Zürcher Sensoriker Patrick Zbinden teilt meine Skepsis: «Mich stört, dass Sharing – wie früher die Molekularküche – oft nicht durchdacht ist, zum Beispiel hinsichtlich Pairing der einzelnen Gerichte mit Wein und Brot. Ich glaube überdies, dass das Sharing vielfach übertrieben wird und einzelne Gerichte konzeptlos aneinandergereiht werden. Gut durchdachte Sharing-Lokale mit harmonischen Tellern und Menü-Abfolgen wird es aber auch in Zukunft geben.»
Wenn ich essen gehen will, dann scanne ich meine innere Datenbank nach toll gemachten, grosszügig angerichteten Gerichten mit astrein herausgekochten Aromen, damit die Erinnerung ans Essen sich festsetzen kann – und nicht die an das «Erlebnis» des Teilens. Und wenn ich weiss, wo es einen tollen Teller gibt, dann will ich ihn gerne selbst leer essen statt niemals sicher zu sein, wem der letzte Happen zusteht. Deshalb ist es vermutlich so: Sharing-Konzepte bieten Unterhaltung, klassische Gastronomie bietet Kulinarik. Beide haben ihre Berechtigung, aber nach drei Jahren Sharing gebe ich der Kulinarik den Vorzug.
Wo ihr in Zürich eigene Erfahrungen sammeln könnt:
• Josef (hatte die «Abschaffung des Hauptgangs» schon vor zwölf Jahren als Programm)
• Moudi (ein stabiler Libanese, aber ich esse immer durcheinander und zu viel)
• Bauernschänke (der prominente Betreiber Nenad Mlinarevic eröffnet demnächst am Glockenhof die Neue Taverne mit Fokus auf Gemüse)
• Kin (tolle Kulinarik, man sitzt etwas eng)
• Schönau (mediterrane Küche zum Teilen)
• Bodega Española, Erdgeschoss (wohl die ersten Tapas in Zürich)
Sharing auf höchstem Niveau in Interieurs von Stardesignerin Patricia Urquiola:
• Igniv by Andreas Caminada, Bad Ragaz und St. Moritz