Essen & Trinken | In der Beiz

Temporäre Restaurants: Bereicherung oder Blödsinn?

Unser Gastro-Kolumnist Hans Georg «HG» Hildebrandt hat sich kurz vor der Schliessung durch Zürichs temporäre Restaurants geschlemmt – und fragte im Anschluss zwei Gastro-Profis: Was halten eigentlich sie vom Pop-up-Trend?

Das frühere Bistro des Kinos Riffraff an der Neugasse im Kreis 5 heisst heute Wermut und ist ein Restaurant mit Bar. Geführt wird es von Kaspar Fenkart (Sport Bar, Central), einem engagierten Gastronomen und Kulinariker. Nebenher verkauft er unter dem Label «The Cocktail» fertig gemischte Drinks für den geneigten Lockdown-Aperöler. Bis zu den neusten Schliessungen wurde man im Wermut derzeit von Markus Burkhard und seiner Partnerin Flavia Hiestand betreut. Die beiden kennt man vom Restaurant des Hotels Jakob in Rapperswil, das zum Komplex des von Patrick Honauer geführten Bachsermärt gehörte. Das Hotel musste im frühen Herbst 2020 schliessen, weshalb das Team Burkhard überhaupt zur Verfügung stand.

Bei meinem Besuch im Jakob vor zwei Jahren fand ich Burkhards Küche sehr überzeugend, besonders auch, weil er einen möglichst konsequenten Nullkilometer-Ansatz verfolgte, also seine Rohwaren aus der unmittelbaren Nähe bezog. Diese Konzepte stossen in Ländern ohne Meeranstoss allerdings an Grenzen, das Essen auf dem Teller ist mir oft etwas zu wenig … schmatzig. Ich bin kein grosser Freund nordischer Kargheit, sondern mag es schlotzig, süffig, schmelzend, mit Butter überglänzt und was der Synonyme mehr sind.

Auch das zweite Pop-up hätte ich gerne empfohlen.

Das temporäre Engagement Burkhards im Wermut passte mir bestens in den Kram. Es stand nämlich im Zeichen tierischer Fette. Das Motto: Rahm, Hip-Hop und Schaumweine. Es gab zum Beispiel grillierte Rande mit einer Rinderfett-Espuma und geräucherten Shitake, begleitet von säuerlichen Salaten. Oder eine Kartoffelmousseline, garniert mit Rosenkohlblättern an Senfsaat, Sauerkraut und Schweinefett. Hauptgang war ein Raviolo mit Rindernacken, Stangensellerie und einer Beurre blanc von der Sellerie, mit Cicorino rosso als herb-bitterem Strukturgeber. Insgesamt tolle Gerichte, fixes Menü, 95 Franken pro Person, schwer in Ordnung. Das zweite temporäre Konzept, das ich am letzten Abend vor den neusten Schliessungen noch aufsuchte: Downtherabbithole im Zero-Waste-Ladencafé an der Freilagerstrasse. Hier war das Thema die möglichst konsequente Vermeidung von Food Waste, und auch diese Erfahrung hätte ich gerne empfohlen. Das Pop-up wird vom Team des erfolgreichen Restaurants Artisan in Wipkingen betrieben und neben den gelungenen Gemüsegerichten mit unbekannten Kräutern und aufwendigen Zubereitungsarten erlebt man einen japanischen Schnellkomposter im Einsatz, der dank Enzymen und Wärme deine Tellerreste innerhalb von 24 Stunden in duftenden Kompost verwandelt – sehr aufregend. Allerdings: Viele Resten gibt es nicht in diesem Pop-up – die Gerichte wie Kroketten aus fermentiertem Rotkohl oder die feinen Pilz-Küchli (Pithivier) mit Kürbisketchup und nur leicht angegartem, vielfarbigem Blattgemüse isst man gerne auf. Alle Rohwaren kommen aus der Region, zum Beispiel von Slowgrow in Mönchaltorf oder aus dem eigenen Garten des Artisan. Hier kostete der Viergänger 89 Franken – und war sein Geld mehr als wert. Auf der Weinkarte gibt es tolle Perlen aus der Region wie den Grünen Veltliner von Holger Herbst in Trüllikon oder den Hallauer Chölle von Markus Ruch.

Früher hiess das «illegale Restaurants».

Beim Pop-up-Phänomen bin ich ein typischer Zürcher: ständig am Meckern, um dann doch hinzugehen. Regelmässig nehme ich mir vor, keine Experimente von mehr oder weniger geschickten Küchenchefs durchzudegustieren und zu beurteilen. Ich bin jedoch auch schon länger in dieser Sache unterwegs: Anfangs der Neunziger waren Pop-ups so cool, dass sie noch nicht mal so hiessen. Der leider verstorbene Jürg Leimbacher, eine Legende des Zürcher Ausgehlebens, kochte zum Beispiel mit einem Team jeweils in «illegalen Restaurants» – es war dies eine Art Eskalationsstufe der illegalen Bars, die vor der Liberalisierung des Zürcher Nachtlebens fast die einzigen Amüsiermöglichkeiten waren. Ebenfalls legendär waren die temporären Restis von Fredi von Escher, einer weiteren Szenegrösse. Ich feierte vor 24 Jahren meinen Dreissigsten in einem seiner Lokale.

Ich bestelle gerne mein Lieblingsgericht.

Weil mir nicht recht klar wurde, was mich am Pop-up-Phänomen wirklich irritiert, rief ich meinen alten Kumpel Ralph Schelling an. Er kochte gerade in einem temporären Cartier-Shop am Rennweg für jeweils acht Gäste in einem exklusiven Pop-up (acht Gäste und jetzt auch geschlossen) und ist sonst für sehr wohlhabende Leute als privater Chef unterwegs. Was Ralph sagte, verlieh meinen diffusen Gefühlen ein bisschen Profil: «Ich bin eigentlich nicht mehr so scharf darauf, ständig neue Pop-ups entdecken zu müssen. Viel lieber gehe ich in meine Lieblingslokale oder lerne neue, familiär geführte Beizen kennen, in denen ein Küchenchef wirklich für die Küche verantwortlich ist und das Personal mich als wiederkehrenden, wertvollen Gast zur Kenntnis nimmt.»

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Ja, mich stört dieses Erlebnissimo-Ding bei vielen Pop-ups. Die Tatsache, dass es zwar wohl um ein kulinarisches Erlebnis geht, dass aber im Vordergrund eindeutig der sogenannte Distinktionskonsum steht. Wer hat wo «natürlich längst vier Plätze am ersten Wochenende gebucht», um anschliessend kenntnisreich rumschnöden zu können? Spoiler: Nicht ich, ich erfahre von den neusten Pop-ups auch immer erst aus den Medien. Wie Ralph Schelling gehe ich gern immer wieder mal mein Lieblingsgericht essen, werde warmherzig willkommen geheissen und bin nicht nur einer von 10’000 durchkalkulierten und meist anonym bleibenden Essern.

Noch mal Ralph: «Ich beurteile ein Pop-up danach, ob möglichst viel von den servierten Speisen selbst gemacht und ganz frisch sind. Convenience herauszuspüren, gibt mir kein gutes Gefühl. Die Kulinarik muss nicht besonders kreativ sein – aber schmecken muss es mir. Wenn es das tut, verzeihe ich auch mal einen optischen Fehler.» Beeindruckt wäre er von einem Pop-up, so Schelling «wenn man etwas scheinbar Einfaches wie Spaghetti Cacio e Pepe für alle genau à point servieren könnte».

Ich beschloss, noch einen zweiten Küchenchef anzurufen, der schon länger mit Pop-ups auf sich aufmerksam macht. Markus Arnold hat für seine Arbeit in der Berner Steinhalle eben den 17. Punkt von Gault Millau ernten dürfen, war aber in den Jahren vor seiner Tätigkeit in dem tollen Lokal vornehmlich in improvisierten Lokalen mit wechselnden Konzepten unterwegs. Derzeit betreibt er neben der Steinhalle das Hallelujah an der Kleinen Schanze. «Weihnachtlich, schön gemacht und cosy», wie er es umschreibt. Er schildert, wie er in den vergangenen Jahren zusammen mit Partner Tom Weingart kompetente Teams für jede Anforderung aufgebaut hat, die ein Pop-up halt so stellt – sodass ein Arnold-Pop-up sich für Bern vermutlich gar nicht mehr improvisiert anfühlt, sondern zuverlässig ein spannendes und kulinarisch aufregendes Erlebnis bietet. «Für mich ist an einem Pop-up wichtig, dass es überrascht und von hoher Qualität ist. Und man sollte einem Pop-up nicht anmerken, dass jemand damit Geld verdienen will.» Im Verlauf des Gesprächs kommen wir darauf, dass er Pop-ups nach den folgenden Punkten beurteilt:

  • Die Gerichte sollten eigens kreiert werden.
  • Es sollte möglichst viel im eigenen Haus gemacht werden, egal ob es dann vor Ort nur noch regeneriert (Gastrosprech für «aufgewärmt») wird.
  •  Im Vergleich zum Besuch eines normalen Restaurants soll mehr Emotion ausgelöst werden.

Das prachtvollste Zürcher Pop-up ever ist natürlich der Leuehof an der Bahnhofstrasse von den Lokalmatadoren Valentin Diem und Nenad Mlinarevic. Obwohl die Projekte der beiden immer wieder neue Massstäbe setzen, ist in diesen Zeiten der Ungewissheit unklar, wie das Projekt sich entwickeln wird; momentan empfangen die effizienten Profis ihre Gäste noch zum ausgedehnten Lunch und am Nachmittag. Und, ja: Ich war noch nicht da. Wenn die Lokale wieder öffnen, werde ich mich als Erstes um einen Platz reissen, um danach wieder ein bisschen rumschimpfen zu können. Ich hoffe, dass wir uns bald wieder in der Beiz treffen können! Bis dahin danke fürs Lesen und meine besten Wünsche fürs neue Jahr.