«Ich war angeblich mal ein Mönch»
Leo Ineichen strotzt vor positiver Energie und besucht regelmässig Elektro-Partys. Seine Lebensphilosophie? «Tanz mit dem Leben und das Leben tanzt mit dir.» Seit über zwanzig Jahren lebt Leo Ineichen mitten im Dörfli. Die kleine Wohnung hat er asiatisch eingerichtet und mit seinen eigenen Kunstwerken geschmückt.
«Hier höre ich nichts ausser die Glocken der Predigerkirche», sagt Leo Ineichen. Entspannt sitzt er im Innenhof des «Hauses zum schwarzen Garten». Seinen unheimlichen Namen verdankt es einer Legende: Im 14. Jahrhundert soll hier eine schwarze Frau exotische Pflanzen gezogen haben. Ein Glockengiesser, der damals im Haus wohnte, hatte sie aus dem Morgenland mitgebracht. Als das Liebespaar heimlich das Niederdorf verliess, brannte es den Garten nieder.
Heute wachsen im Innenhof grosse Hortensien und eine über hundertjährige Esche. Seit mehr als 20 Jahren wohnt Leo in diesem Haus. Vorher hat er in den Kreisen 8 und 3 gelebt. An die Altstadt musste er sich erst gewöhnen. «Das Niederdorf ist halt wirklich ein Dörfli», sagt Leo. Es gebe wenig Anonymität. «Es ist aber auch schön, wenn sich die Leute noch füreinander interessieren.»
Im Haus befindet sich ein Zivilschutzkeller aus dem Ersten Weltkrieg. Dort hat Leo sein Atelier eingerichtet. «Ich brauche kein Tageslicht, ich male sowieso meist in der Nacht.» Im ehemaligen Kohlenkeller hat er mit Kissen und Sitzgelegenheiten einen «Chill-out-Raum» eingerichtet. An der Wand hängt ein grosses Action-Painting-Bild – also aus jener Kunstrichtung, bei der durch Körperbewegung verschiedene Farben experimentell auf die Leinwand aufgetragen werden.
Ein Bett besass Leo noch nie.
Vor Leos Wohnung im zweiten Stock stehen etliche Paare japanischer Gäste-Schlarpen. Eines seiner zwei Zimmer hat er asiatisch eingerichtet: Vor dem Fenster ist eine leicht transparente Trennwand aufgestellt, hinter Schiebewänden aus Reispapier verstaut Leo fast sein ganzes Hab und Gut. «Ich liebe die traditionelle japanische Ästhetik», sagt Leo. Und: «Räume ‹vermöbeln› ist nicht mein Ding.» Ein Bett besass Leo noch nie. Zum Schlafen legt er zwei bis drei Futons – japanische Matratzen – aufeinander. «Ein indischer Yogi hat mir mal verraten, dass ich in meinem früheren Leben angeblich als Mönch gelebt haben soll.»
In diesem schlichten Zimmer meditiert Leo regelmässig. Dafür schlüpft er meistens in eine dunkle Robe. «Schwarz ist die intensivste Farbe und erleichtert mir die Konzentration», so Leo. Er beschäftigt sich seit dreissig Jahren mit der Zen-Philosophie und hat einige Zeit in einem Kloster gelebt.
«Weniger ist mehr» ist Leos Wohnphilosophie. So ist auch sein zweiter Raum schlicht mit einem modernen Sofa und zwei Sesseln eingerichtet. An den Wänden lehnen selbstgemalte Bilder.
«Aufgeweckte junge Leute sind geistig oft schon beeindruckend reif, während alte Menschen mit ihrer Engstirnigkeit nerven können.»
Besuch bewirtet Leo in seinem Schlaf- und Meditationszimmer an einem niedrigen Tisch, den er jeweils auf- und abbaut. «So wie in Japan», sagt Leo. Er hat einen grossen und durchmischten Freundeskreis und trifft sich mit 25- bis 90-Jährigen. «Aufgeweckte junge Leute sind geistig oft schon beeindruckend reif, während alte Menschen mit ihrer Engstirnigkeit nerven können.» Es gebe aber auch beglückende Ausnahmen.
«Das Tanzen in den Clubs und an den Raves hat mich endgültig befreit.»
Leo hat kürzlich seinen 69. Geburtstag gefeiert. Jahrzehnte passte er sich der Gesellschaft an. «Ich habe aber immer gespürt, dass das richtige Leben eigentlich anders ist.» Je älter er wurde, desto weniger interessierten ihn seine Karriere und die Erwartungen anderer Leute. «Ich war nicht mehr so sehr auf die Aussenwelt fixiert, sondern hörte mehr auf mein Inneres.» Er fing an zu malen. Die Schweizer Elisabeth Zollinger und Ivo Tarquini bezeichnet er als seine wichtigsten Lehrpersonen und Vorbilder. «Sie haben mich inspiriert und gelehrt, mich frei von Angst und spontan auf der Leinwand auszudrücken.» Er malt farbige, abstrakte Bilder. Vor allem beim Action Painting könne er völlig abschalten. «Malen ist wie tanzen mit dem Pinsel», sagt Leo, der regelmässig Elektro-Partys besucht.
Er war bereits über 40 Jahre alt, als ihn ein Freund zum ersten Mal an einen Rave mitgeschleppt hat. «Das Tanzen in den Clubs und an den Raves hat mich endgültig befreit», sagt Leo. Er erinnert sich an ein Erlebnis: Als 22-Jähriger hat er zwei Monate in Brasilien gelebt. Die Leute seien arm, aber glücklich gewesen. Sonntags tanzten sie zusammen. Damals sei er noch zurückhaltend gewesen, erzählt Leo. Einmal kam eine fast hundertjährige Frau auf ihn zu. Auf Portugiesisch flüsterte sie ihm ins Ohr: «Tanze einfach und Gott ist in dir.» Obwohl er nicht religiös gewesen sei, habe ihn dieser Satz stark geprägt. «Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch etwas Göttliches in sich trägt – einen Diamanten, wenn auch meist noch ungeschliffen, im Herzen hat.»
Beim Tanzen ist Leo eine entspannte Atmosphäre wichtig. Früher trug er an den Partys Shirts, die er selbst mit Zitaten bedruckt hatte. Auf seiner Brust stand beispielsweise «Am Anfang war der Rhythmus»: «Schliesslich spürt bereits ein Embryo den Herzschlag seiner Mutter.» Oder auch «Ich bin zeitlos». Diesen Satz habe eine Frau einmal so berührt, dass sie zu Hause vor Glück weinen musste, wie sie Leo Jahre später erzählte. «Das Gefühl der Zeitlosigkeit ist für mich zu meinem Lebensstil geworden.» Er wolle offen sein für das, was im Moment ist.