LGBT-Kolumne

Ghosting: Wir sollten es besser wissen

Kolumne: Anna Rosenwasser

Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Dieses Mal spricht die LGBT-Aktivistin und Autorin über Ghosting: Keine Nachricht, kein Anruf, kein Lebenszeichen. Wieso wir alle rücksichtsvoller sein sollten, wenn es darum geht, sich zu verabschieden.

Vor tausend Jahren hatte ich mal ein Date mit einem Typen, nennen wir ihn Gustav, und ich war masslos begeistert. Es war wirklich ein Hin-und-weg-Date. Mit der Betonung auf «weg»: Ich hörte nie wieder von ihm. Gustav hatte mich geghostet. Weil es tausend Jahre her ist, kannte ich den Ausdruck des Ghostens noch nicht. Aber ich kannte die Unart, sich von einem Tag auf den anderen nicht mehr zu melden – von mir selbst.

«Wie oft hatte ich nach einem Date keinen Bock gehabt, in Worte zu fassen, dass ich die andere Person nicht mehr wiedersehen will!»

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Wie oft hatte ich nach einem Date keinen Bock gehabt, in Worte zu fassen, dass ich die andere Person nicht mehr wiedersehen will! Nicht unbedingt, weil sie scheisse war. Sondern einfach so, einfach keine Lust, einfach der Vibe weg. Mega nicht einfach, so was in Worte zu fassen. Ich hab’s Gustav trotzdem eine Weile nicht verziehen. Alle paar Jahre versuche ich, ihn zu googeln, und muss enttäuscht feststellen, dass ein erfolgreicher Schwinger seinen Namen trägt, und dann lande ich auf Schwinger-Homepages. Lieblingsessen: Rahmschnitzel. Hobbys: Mountenbike [sic!], Schwyzerörgeli und Jassen. Vielleicht sollte ich auch einfach aufhören, einen Mann zu googeln, mit dem ich vor tausend Jahren mal ein Date hatte.

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«Ihr Lieben, ich lag falsch.»

Einige Jahre später begann ich, Leute zu daten, die keine Männer sind. Ich dachte: Jetzt wird alles besser. Wer das ganze Leben lang zurückgewiesen wurde, weiss doch, wie man fair und lieb «nein, danke» sagt! Oder, noch besser: «ja, gern»! Oh sweet queer community! Ihr Lieben, ich lag falsch. Und zwar nicht, weil alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, schlecht wären, sondern: weil es schwierig ist, zurückzuweisen. Weil es schwierig ist, auf die eigene Intuition zu hören, auf den eigenen Verstand, manchmal beides kombiniert, und dann: eine freundliche Nachricht zu schreiben, in der steht, dass kein Interesse an einem nächsten Date besteht.

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Dass ich mir etwas anderes erhofft hatte von queeren Menschen, liegt an einem verbreiteten Missverständnis: Leute aus der LGBTQ-Community sind keine besseren Menschen. (Auch keine schlechteren!) Es sind einfach Personen, deren sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität aus dem normativen Rahmen fällt. Diese fälschliche Erwartung habe nicht nur ich, sondern viele andere auch; immer wieder höre ich Aussagen wie «Warum ist der so rassistisch? Er ist doch selber schwul, er sollte wissen, wie das ist!» oder «Wie kann eine cis Lesbe nur so transfeindlich sein? Sie sollte es besser wissen!»

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«Ein Leben mit Diskriminierung zu kennen, macht uns noch nicht zu diskriminierungsfreien Wesen.»

Ja, wir sollten es besser wissen. Aber selbst ein Leben mit Diskriminierung zu kennen, macht uns noch nicht zu diskriminierungsfreien Wesen. Wir wachsen alle auf mit abwertenden Vorurteilen, mit unterdrückenden Normen in unseren Köpfen. Das geht nicht automatisch weg bei denen, die gay sind. (Und bei allen anderen auch nicht.) Im Gegenteil, Diskriminierungserfahrung prägt, in traumatischen Ausmassen manchmal. Das macht den Umgang mit Mitmenschen nicht leichter. So oder so: Ich glaube, ein fairer Umgang mit Mitmenschen kann erlernt werden. Und zwar von allen.

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