Der Stadtwanderer war mal ein Spanner – ausser in der Weihnachtszeit
Wenn er weihnachtliche Lichterketten sieht, muss unser Kolumnist Beni Frenkel immer an seine schöne Nachbarin denken, die er als Jugendlicher heimlich im Badezimmer beobachtete. Doch dieses Jahr ist alles anders. Zum Glück weiss sich Beni zu helfen: im Coop am Samstagabend.
Als Jugendlicher habe ich die schöne Frau Gerhard im Badezimmer beobachtet – unzählige Stunden. Von unserem Klo aus hatte man eine perfekte Aussicht aufs Nachbarhaus. Und Frau Gerhard, die Gute, hat nie Vorhänge angebracht.
Meine ganze Jugend habe ich zwischen acht und neun Uhr abends im Klo verbracht. Irgendwann in dieser Zeit ist Frau Gerhard nämlich ins Badezimmer gehuscht und hat sich hübsch gemacht.
Meine Eltern, meine Brüder und meine Schwester haben manchmal an die Türe gepoltert. Ich habe immer gestöhnt: «Schon wieder Durchfall, Entschuldigung.» Meine Mutter, die mir das abkaufte, ging deswegen einmal sogar zum Arzt mit mir.
Nur im Dezember konnte ich Frau Gerhard nicht zugucken. In der Vorweihnachtszeit hat sie immer Lichterketten vor das Fenster gehängt. Das lenkte mich zu stark ab.
«Do they know it’s christmas?» Ganze Strassenzüge lagen nämlich im Dunkeln. Nur selten konnte ich eine billige Lichterkette erspähen.
An Frau Gerhard muss ich heute noch denken, wenn ich Leute beobachte, wie sie Weihnachtsschmuck aufhängen. Nur dieses Jahr kommen keine schönen Gefühle auf. Wenige Tage vor Weihnachten bin ich am Abend durch die Strassen von Wollishofen gestrichen und habe mich gewundert: «Do they know it’s christmas?» Ganze Strassenzüge lagen nämlich im Dunkeln. Nur selten konnte ich eine billige Lichterkette erspähen. Dabei handelte es sich aber stets um LED-Lichter, die keine christliche Wärme ausstrahlten.
Haben die alle zu viel «Grinch» geguckt?, durchzuckte es mich. Ich ging näher an die Fenster. Was läuft denn hier drinnen? Ich sah Pärchen, die sich in der Küche keiften, Männer vor einem Computerspiel, Kinder am Handy. Aber niemand schmückte das Wohnzimmer. An wenigen Bäumen hingen Lichterketten. Aber das war es dann auch schon. Nur in den Schaufenstervitrinen und vor den Lebensmittelläden weihnachtete es. Immerhin.
All das könnte mir ja eigentlich egal sein, ich bin Jude. Die Wahrheit ist aber: Ich liebe Weihnachten! Ich kann nicht genug davon kriegen. Bei uns zu Hause läuft ab November immer die CD «Die 50 schönsten Weihnachtslieder». Ich kann aus dem Stegreif ein Dutzend Lieder vorsingen. Ich bin sogar so gut, dass mich die Heilsarmee rekrutieren könnte. Mit voller Kehle sänge ich am Paradeplatz «Do they know it’s christmas?».
Ich feiere nämlich Weihnachten nicht nur im Herzen, sondern auch beim Resteverkauf.
Traurig ging ich in den Coop. Es war schon halb neun Uhr abends. Ein Samstagabend. Ich feiere nämlich Weihnachten nicht nur im Herzen, sondern auch beim Resteverkauf. Im Coop reduzieren sie am Samstagabend den Preis aller Lebensmittel, die das Wochenende nicht überleben würden. Ein harter Kern von etwa zehn Schnäppchenjägern laufen jeweils hinter einem Coop-Angestellten her, der mit seinem Abrollgerät «50 Prozent Rabatt»-Kleber auf Esswaren drückt.
Wir Hungrigen fiebern immer mit: Welche Lebensmittel setzt er wohl heute herab? Und etwas Weihnachtsstimmung kommt dann doch noch auf.