Stadt & Geschichte | Züri Crime
Von der Mutter zur Mörderin?
Der mysteriöse Giftmord an einem Mädchen erschütterte vor über hundert Jahren Zürich: Dessen Eltern lebten in Scheidung und beschuldigten einander gegenseitig der Tat. Doch schnell war klar: Nur die Mutter konnte die Schuldige sein. Oder?
Das Mädchen fühlte sich krank. Es hatte Bauchschmerzen und musste mehrmals erbrechen. Der aufgebotene Arzt war sich im November 1920 sicher: Das ist nur eine harmlose Magen-Darm-Grippe. Er verschrieb der Zwölfjährigen einen Wickel und eine Diät.
Zwei Wochen später war das Kind tot, gestorben in seinem Zuhause im Niederdorf. Es war ein «aussergewöhnlicher Todesfall», die Polizei nahm Ermittlungen auf. Die Verdächtigte? Gertrud Graber, die Mutter. Sie wurde unter anderem von ihrer Schwägerin beschuldigt.
Doch Gertrud Graber stritt die Tat ab. Sie erzählte, dass ihre Tochter nach einem Verwandtenbesuch über Unwohlsein geklagt habe. War der Apfelkuchen vergiftet gewesen, den das Mädchen bei seiner Tante gegessen hatte?
Wenige Tage nach dem Arztbesuch war das Kind tot.
Gertrud Graber beschuldigte auch den Kindsvater, mit dem die Zürcherin gerade einen heftigen Scheidungskampf führte: Sie wollte das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter, er liess dies nicht zu.
Die Polizei verhaftete Gertrud Graber und durchsuchte die Wohnung. In dieser bereitete die Verdächtige immer wieder Produkte für ihren Laden zu: An der Niederdorfstrasse führte sie ein Geschäft für Kosmetika. Neben verschiedenen Ölen und Cremes verkaufte sie dort auch Teemischungen, Verhütungsmittel und einen «Kraftlikör». In Letzterem fand die Polizei Spuren des Gifts Arsen.
Die Leiche des Mädchens wurde im ein paar Jahre zuvor gegründeten Gerichtsmedizinischen Institut untersucht – als eine der ersten Leichen im Institut überhaupt. Der Mediziner Heinrich Zangger fand einen «ausgeprägten Arsenspiegel». Er notierte, dass die Speiseröhre «ganz schwarz» gewesen sei. Das Mädchen musste mehrere Dosen des Giftes eingenommen haben – und zwar an den Tagen vor seinem Tod. Da der Vater zu dieser Zeit im Ausland war, kam er als Täter nicht infrage.
Es konnte kein Versehen sein.
Eine Zeugin belastete Gertrud Graber schwer: Bei einem Krankenbesuch habe sie gesehen, wie die Mutter etwas in das Glas ihrer Tochter geschüttet und ein Säckchen in den Ofen geworfen habe.
Doch Gertrud Gruber bestritt die Tat. In den Verhören beteuerte sie immer wieder, wie sehr sie ihre Tochter geliebt habe.
Der Fall kam vor das Schwurgericht. Die Boulevardpresse berichtete, nannte Gertrud Graber eine «Giftmischerin» und ein «Scheusal einer Mutter». Sie forderte eine «lebenslange Zuchtstrafe».
Auch für den Ankläger war klar, dass Gertrud Graber ihre Tochter vergiftet hatte. Sie sei kurz vor dem Bankrott gestanden. Mit dem Giftmord habe sie «ein Dreifaches» erreichen können, führte er aus: Sie konnte «ihr liebes Kind in eine bessere Welt verschwinden lassen», sich an ihrem verhassten Ex-Mann rächen und musste fortan keine Verantwortung mehr für ihre Tochter tragen.
Der Universitätsprofessor und Gerichtsmediziner Heinrich Zangger sagte aus, dass im ganzen Körper des Mädchens Gift gefunden worden sei – allein im Magen und Darm das Fünfzig- bis Sechzigfache der tödlichen Menge. Niemals hätte das Kind diese hohe Dosis unabsichtlich einnehmen können.
Hatte das Gericht Mitleid?
Doch Gertrud Graber schaffte es, die Sympathien für sich zu gewinnen. Die Fragen des Gerichts beantwortete sie ruhig und klar. Sie erzählte von den Zukunftsplänen ihrer Tochter – diese wollte Coiffeuse werden. Und sie erklärte, dass sie im besagten Wasserglas kein Gift aufgelöst habe, sondern Zitronensaft hineingegeben habe. Dieser helfe gegen Übelkeit.
Dreieinhalb Stunden lang beriet das Gericht – dann sprach es Gertrud Graber frei. Einige Pressevertreter waren empört, war doch der wissenschaftliche Befund klar. Doch vielleicht waren Gertrud Grabers Schilderungen so überzeugend gewesen, dass ihr die Geschworenen schlicht keinen Mord zutrauten. Oder sie hatten Mitleid mit der Frau, fanden die Tat entschuldbar. «Ein sensationeller Freispruch», lautete eine der Schlagzeilen am nächsten Tag. Sie hat nach über hundert Jahren noch immer Gültigkeit.