«Beim Einrichten werden wir zu Höhlenmenschen»
Die Zürcherin Simone Rauch ist wohnpsychologische Expertin. Sie hat uns erklärt, weshalb wir nicht nur auf unsere Instinkte hören sollten und wann die vermeintliche Traumwohnung krank machen kann.
Als Psychotherapeutin bieten Sie auch wohnpsychologische Beratungen an. Wer beansprucht diese?
Es fragen mich beispielsweise Leute für eine wohnpsychologische Beratung an, die sich allgemein Gedanken zum Thema Wohnen machen. Sie wollen zum Beispiel ein Haus oder eine Wohnung kaufen und fragen sich, in welcher Umgebung sie sich längerfristig wohlfühlen. Das sind oft Familien oder Paare, die bereits zusammengelebt haben. Ich berate aber auch immer wieder Klient*innen wohnpsychologisch, die mich eigentlich wegen einem anderen Thema aufsuchen – unter anderem wegen einer Depression. In diesen Sitzungen besprechen wir oft auch die Wohnsituation, da sie das Wohlbefinden stark beeinflusst. Beengte Verhältnisse führen beispielsweise oft zu Stress und können andere seelische Leiden verstärken. Gerne würde ich zukünftig auch schon in der Projektierungsphase von Wohngebäuden mit Architekten und Projektverantwortlichen zusammenarbeiten, und damit zu einem möglichst bedürfnisgerechten Bauen beitragen zu können.
«Nur weil man sich in seiner Wohnung nicht wohlfühlt, muss man nicht gleich ausziehen.»
Gerade in der Stadt Zürich ist es nicht ganz einfach, die Wohnsituation zu verändern.
Ja. Aber nur weil man sich in seiner Wohnung nicht wohlfühlt, muss man nicht gleich ausziehen. Oft lässt sich auch ohne grossen finanziellen Aufwand viel verbessern – zum Beispiel, in dem man bedürfnisorientierter einrichtet. So sorgt ein einfacher Raumtrenner sofort für etwas mehr Privatsphäre. Oder wer nicht das Glück hat, auf Bäume blicken zu können, holt sich die Erholungsqualität der Natur mit Zimmerpflanzen oder auch Bildern ins Haus.
Die meisten Menschen richten sich ihre Wohnungen ja selbst ein. Wieso fühlen sie sich trotzdem nicht wohl?
Weil die Menschen eben häufig nicht auf ihre – teilweise unbewussten – Bedürfnisse in Zusammenhang mit der Wohnsituation achten! Oder diese falsch gewichten. Jemand möchte beispielsweise eine unkomplizierte Wohnung, die er schnell putzen kann. Also kauft er sich entsprechende Möbel und lässt einen Plattenboden verlegen, den er einfach wischen kann. Im ersten Moment ist er sehr zufrieden. Doch längerfristig fühlt er sich mit dieser praktischen Einrichtung nicht wohl. Sie wirkt kalt. Das gilt zum Beispiel auch für den Industrial Chic, der lange sehr angesagt war oder eine komplett weisse Einrichtungen.
Was ist das Problem damit?
Eine solche Möblierung weist wenig positive Anregung für die Sinne und wenig Erholungsqualität auf. Sie führt tendenziell zu innerer Unruhe und Gereiztheit und trägt damit möglicherweise vermehrt zu sozialen Konflikten bei.
«Eine weisse Einrichtung führt tendenziell zu innerer Unruhe.»
Richten sich denn viele Leute falsch ein?
Grundsätzlich spüren die meisten Leute, was ihnen gut tut. Es ist ihnen aber beispielsweise zu wenig bewusst, inwiefern die Struktur oder Möblierung einer Wohnung zu Beengungssituationen führen kann. So kommt es öfters vor, dass die Wohnungsfläche nicht ideal genutzt wird. So führen offene Wohnräume häufig zu Konflikten – der eine will in Ruhe kochen, während der andere laut fernsehen möchte. Es ist wichtig, dass man als Familie oder Wohngemeinschaft versucht, diese Probleme zu lösen, indem man Rückzugsmöglichkeiten für alle schafft – und zwar nicht nur im eigenen Zimmer. Denn sonst fehlt der Austausch, der für ein harmonisches Zusammenleben wichtig ist.
Man sollte sein Daheim also analytisch einrichten?
Nicht unbedingt. Einige haben eine gute Intuition und spüren sofort, was ihnen passt. Allgemein fällt man gute Entscheidungen dann, wenn man Gefühl und Wissen miteinander kombiniert. Wichtige Fragen, die man sich beim Einrichten stellen sollte, sind: Was brauche ich, um mich geborgen zu fühlen? Und wie kann ich einen emotionalen Bezug zur Wohnung herstellen? Die einen benötigen dafür Vorhänge für grosse Fensterfronten, die anderen urchige Holzmöbel oder persönliche Erinnerungsstücke zieren die Wände. Häufig orientieren wir uns dabei auch – unbewusst – an positiven Erlebnissen oder Wohnsituationen aus der Kindheit. Beim Einrichten werden wir übrigens auch alle wieder so etwas wie Höhlenmenschen.
Wie meinen Sie das?
Wie wir Räume gestalten, hat viel mit unserer Evolutionsgeschichte zu tun: So fühlen wir uns immer dann wohl, wenn wir den Raum überblicken können. Deshalb sitzen wir häufig mit dem Rücken zur Wand an den Tisch. Das Bett stellen wir im Schlafzimmer meistens so auf, dass wir die Türe sehen können – unbewusst also das Gefühl haben, dass wir den Raum bei Gefahr sofort verlassen können.
«Es hat sich schnell gezeigt, wenn eine Wohnung nur schön, aber nicht funktional eingerichtet war.»
Seit Corona verbringen die meisten Zürcher*innen so viel Zeit daheim wie noch nie zuvor. Wird sich unser Verhältnis zum Wohnen langfristig verändern?
Darüber kann ich nur spekulieren. Am Anfang der Pandemie waren die meisten noch gerne daheim. Sie sind zur Ruhe gekommen und haben die Zeit mit ihren Liebsten genossen. Doch mit der Zeit kippte die Stimmung. Man fühlte sich eingeengt und kam sich gegenseitig in die Quere. Es hat sich schnell gezeigt, wenn eine Wohnung nur schön, aber nicht funktional eingerichtet war. Wenn auch nach Corona mehr im Home Office gearbeitet wird, müssen die Leute ihr Zuhause zwangsläufig anders einrichten und zonieren, damit es nicht zu Nutzungskonflikten kommt – schliesslich muss es dann noch eine weitere Funktion erfüllen.