Muss es ein Geheimnis bleiben?
Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Im Januar trifft die Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz auf einen schwulen Teenager, dem es vor dem baldigen Familientreffen graut.
«Ohne High Heels gehe ich heute nirgendwohin», verkündet Noah heiter, während wir am Buffet unsere Desserts holen. Wir sind an einem queeren Abendessen, und später wollen wir alle tanzen gehen. «Eine Stunde müsst ihr auf mich verzichten», sagt Noah und zwinkert, während wir uns wieder zu den andern an den Tisch setzen. «Aber dafür hab ich nachher eine Frisur – und meine High Heels! Worth it!»
Nun reden ein 16-jähriger schwuler Junge und ich darüber, wie man in High Heels geht.
Ich kenne Noah erst seit heute Abend, aber ich sehe ihn nicht zum ersten Mal. Tief in der Nacht, mitten auf der Tanzfläche, habe ich ihn schon tanzen gesehen. Mit seinen gewellten Haaren, manchmal die Augen geschlossen, elegant gekleidet, in Glitzer und mit Make-up. Nun sitzen wir am selben Tisch, ein 16-jähriger schwuler Junge und ich, und reden darüber, wie man in High Heels geht. Ich weiss es nicht. Noah schon.
Es gibt ein Lied, in dem Beyoncé und Nicki Minaj immer wieder den Satz sagen: «I’m feelin’ myself.» Ich glaube, den Ausdruck gibt es nicht auf Schweizerdeutsch. Aber er bedeutet in etwa, dass man bei sich angekommen ist, sich selbst abfeiert. Man fühlt sich selbst – und es fühlt sich gut an. Ich denke oft an diesen Satz, wenn ich im Ausgang junge Queers sehe, die sich selbst sein können. They’re feelin’ themselves. Ich bin so froh, dass es in Zürich Anlässe und Orte gibt, wo dies möglich ist – ja, sogar mehrere queere Partys, die bereits ab 16 sind. Wir feiern einander ab und passen aufeinander auf.
Man fühlt sich selbst – und es fühlt sich gut an.
Als unser Tisch über die Pläne am nächsten Tag redet, verfinstert sich Noahs Miene allerdings. «Familientreffen», stöhnt er, «ich hab die alle schon seit einem Jahr nicht mehr gesehen.» Noah senkt seinen Blick, zu seinen Händen, wo angemalte Nägel glitzern. «Ich hab anders ausgesehen vor einem Jahr», sagt er, und es klingt etwas traurig. «Bist du geoutet bei deiner Familie?», frage ich vorsichtig. Noah zuckt mit den Schultern: «So halb, aber … längst nicht bei allen. Soll ich morgen anders aussehen als … jetzt? Muss ich das alles wegmachen? Ich hasse Entscheidungen.»
Ich hasse solche Entscheidungen auch. Warum muss ein Teenager – ein Teenager, der sich selbst gefunden hat und sein Leben in Regenbogenfarben gestaltet – warum soll er sich verstellen müssen? Aber gleichzeitig auch: Warum sollte er den Horror von Kommentaren über sich ergehen lassen, über lackierte Nägel und Lidschatten und effeminierte Gestik, wenn er sich doch einfach verstellen kann? Die ganze Schauergeschichte abwenden kann? Wofür soll er sich entscheiden: Sich selbst sein und dafür bestraft werden? Oder normal behandelt werden, während er ein Geheimnis für sich behält?
Manche Queers sind ein wandelndes Geheimnis, Tag für Tag.
Es ist eine Entscheidung, die viele Queers fällen müssen. Manche sind ein wandelndes Geheimnis, Tag für Tag. Bis sie an Anlässe kommen können wie diesen hier, wo Noah und ich nun vor leeren Dessertschäleli sitzen. Bis sie mit Menschen reden können, die sie voll und ganz akzeptieren, nicht, obwohl sie so sind, sondern auch weil sie so sind.
Zwei Stunden später sehe ich Noah wieder, jetzt mehrere Zentimeter grösser, aus Stolz und wegen seiner High Heels. Er steht mitten auf der Tanzfläche, mit einem Schmunzeln im Gesicht. He’s feelin’ himself.