Ist «dick» eine Beleidigung?
Einmal im Monat schreibt Anna Rosenwasser, wie sie in Zürich lebt und liebt. Im März erklärt die Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz, weshalb sich queere Teenager unter dem «dicken Engel» am HB versammeln – und wieso das ein Kompliment für ihn ist.
Ich weiss noch, wie schwer es mir früher fiel, alleine an einen Anlass zu gehen – vor allem, wenn ich weder den Ort noch die Menschen dort kannte. Also organisiere ich heute manchmal einen Treffpunkt am Hauptbahnhof, damit wir gemeinsam an queere Anlässe gehen können. Erst auf fremde Menschen treffen, dann an den fremden Ort gehen. Die schwierigen Aufgaben gestaffelt angehen, quasi.
Wir treffen uns immer am selben Ort: unter dem dicken Engel. Den kann man nicht übersehen – auch nicht, wenn man aus dem tiefsten Aargau kommt und zum ersten Mal am HB strandet. Den dicken Engel sieht man immer. Deshalb liebe ich ihn so sehr.
Den dicken Engel kann man nicht übersehen.
Ich werde wegen des Engels ziemlich oft angeschrieben. «Hey, Rosa …», heisst es da etwa, «das mit dem dicken Engel klingt irgendwie gemein. Wir könnten ihn den fülligen Engel nennen? Oder den vollschlanken Engel?» Oder: «Ich dachte, du seist für body positivity. Warum nennst du den Engel dann dick?» Natürlich gibt es auch die Nerds, die mir die Fakten zitieren: dass der Engel gar nicht so heisst, sondern «l’ange protecteur», dass er von Niki de Saint-Phalle stammt und ja eigentlich eine «Engelin» ist. All diese Fakten kann ich auch einfach nachlesen (zum Beispiel gleich hier auf hellozurich).
Menschen haben Jahrzehnte damit verbracht, so zu tun, als wäre Dicksein etwas Schlechtes.
Wenn ich einer jungen Person, die für einen queeren Anlass zum ersten Mal nach Zürich kommt, unseren Treffpunkt beschreiben will, sage ich ganz sicher nicht, «wir treffen uns unter dem Kunstwerk von Niki de Saint Phalle». Das können von mir aus Kunst-Student*innen machen. Und «Engelin» sag ich auch nicht, denn «Engel» ist grammatikalisch geschlechterneutral (historisch übrigens auch).
Aber darum geht’s ja nicht. Den meisten Leuten, die mir schreiben, geht es darum, dass ich den Engel nicht dick nennen soll. Schliesslich mögen wir ihn. Und wen man mag, beleidigt man nicht. Stimmt – nur ist es so, dass ich mich weigere, «dick» mit einer Beleidigung gleichzustellen. Menschen haben Jahrzehnte damit verbracht, so zu tun, als wäre Dicksein etwas Schlechtes. Das hinterlässt üble Spuren. Ich würde natürlich nicht zu meinen Freundinnen sagen, «treffen wir uns am Freitagabend bei der dicken Sonja?», weil ich vermute, Sonja tut sowas weh.
Er hat keine Gefühle, aber er ist dick.
Dem Engel aber nicht. Er hat keine Gefühle, aber er ist dick. Er ist ebenso dick wie er gross, bunt und schwer ist. Keine von diesen Eigenschaften ist negativ – «dick» auch nicht. Das haben wir Menschen erfunden. Dick, das ist eine Beschreibung. Ein Wort mit trauriger Gegenwart, ein Wort, das vielen zu schaffen macht. Zum Glück gibt es Menschen, die sich gegen diese Ungerechtigkeit wehren. Sie sagen: Dick ist nicht schlecht, also hört auf, dicke Menschen mit diesem Wort zu beleidigen. Denkt endlich mal um.
Das versuche ich, jeden Tag. Ich werde den Engel dick nennen, freudig und anerkennend. Dass der Engel am HB dick ist, macht ihn ja erst so sichtbar. Es macht ihn gewaltig und schön. Ich bewundere das am dicken Engel. Wie er die Leute am HB beschützt und ihnen Sicherheit gibt. Ich kann nur hoffen, meinen kleinen Teil dazu beizutragen.