Stadt & Geschichte | Züri Crime
Hansli verschwindet mitten in Altstetten
Das Verschwinden eines Buben wühlte 1949 ganz Zürich auf: Der fünfjährige Hansli Eichenberger kehrte nie von einem Einkauf in der Migros zurück. Der Fall beschäftigte Hunderte Beamte, trieb einen Mann in den Wahnsinn – und inspirierte Friedrich Dürrenmatt zu «Es geschah am hellichten Tag».
20. Mai 1949, kurz vor Mittag: Die Mutter schickt Hansli Eichenberger in die nahe Migros-Filiale an der Bäckerstrasse. Dort soll der Fünfjährige ein Kilo Zitronen besorgen. Eine Verkäuferin wird sich später daran erinnern, den Buben bedient zu haben. Seine Mutter wartet jedoch vergebens auf ihn. Um 13.50 Uhr meldet der Vater Hansli als vermisst.
Am nächsten Nachmittag findet die Zürcher Polizei die Einkaufstasche von Hansli: Sie liegt in einer Betonröhre versteckt. In der Tasche befinden sich die Unterhose des Jungen sowie ein Taschentuch. Beides ist mit Blut bespritzt. Jenes auf dem Taschentuch stuft die Polizei später als nicht tatrelevant ein – mit dem Tuch wurde vermutlich nur harmloses Nasenbluten gestillt. Auch die anderen Gegenstände werden von der Polizei untersucht. Dabei sind die «modernsten mikrobiologischen Methoden verwendet worden», wie die Tageszeitungen kurz darauf schreiben. Doch die Analysen ergeben keine verwertbaren Resultate.
Die Polizei durchsucht Abstellhallen, Lagerplätze und Häuser.
In den nächsten Tagen durchkämmen die Beamten die Gegend rund um Hanslis Zuhause an der Vulkanstrasse in Zürich-Altstetten. «Eine riesige Fahndungsaktion», erinnert sich die «Schweizer Illustrierte» in der Ausgabe vom 25. Januar 1950. Die Polizei durchsucht Abstellhallen, Lagerplätze, Kamine und die Kanalisation. Fabrikkanäle werden trockengelegt und die Limmat wird mit einem speziellen Gerät abgesucht. Liegenschaftsbesitzer und Gartenpächter werden in einem Rundschreiben dazu aufgefordert, besonders aufmerksam zu bleiben, Bauern angehalten, Miststöcke und Jauchegruben zu kontrollieren. Die Wasch- und Reinigungsinstitute müssen verdächtige Blutflecken sofort der Polizei melden.
Zehn Tage nach Hanslis Verschwinden lässt die Bezirksanwaltschaft Suchplakate aufhängen. «Vermisst – Belohnung 1000 Fr.» steht darauf. Ein Porträt von Hansli sowie eine Beschreibung sind abgedruckt: «Ein hübscher und lieber Knabe», steht da unter anderem.
Die Bezirksanwaltschaft lässt Suchplakate aufhängen.
Hanslis Familie ist mittlerweile so verzweifelt, dass sie ihre Hoffnung in ausländische Telepathen setzt. Einer von ihnen ist der Wiener Cordon Veri. Er stellt seine Dienste gar offiziell der Polizei zur Verfügung. Ein Zeitungsfoto zeigt den Mann, wie er im Wohnzimmer der Eichenbergers das Pendel schwingt. Andere Hellseher versuchen den Ablegeort der – inzwischen mutmasslichen – Leiche des Buben ausfindig zu machen, einige mit Ruten, andere mit gewöhnlichen Taschentüchern.
Aus der Bevölkerung erhält die Polizei über tausend Hinweise. Jeder einzelne wird von den Beamten sorgfältig überprüft. Das nimmt oft bis zu fünf Tagen in Anspruch. Hunderte Männer arbeiten bis zu 16 Stunden am Vermisstenfall – auch sonntags.
Bis 1950 investiert die Polizei 12’000 Arbeitsstunden in den Vermisstenfall.
Eine Zeugin berichtet, wie ein Unbekannter in die Betonröhre geschaut habe. Kurz darauf sei der Mann in einem dunkelblauen Auto davongefahren. Ein anderer Zeuge bestätigt das Geschehen. Doch die Beschreibung des Verdächtigten bleibt vage: Der Mann sei mittlerer Statur und 30 bis 40 Jahre alt gewesen. In der Folge werden alleine im Kanton Zürich 800 blaue Autos überprüft. Noch Jahre später erzählt man sich in der Stadt, was einige gesehen haben wollen: Hansli, wie er aus dem hinteren Fenster des blauen Autos verzweifelt um Hilfe gewinkt habe.
Nach Hanslis Verschwinden werden Suizide besonders überprüft – in der ganzen Schweiz. Ausserdem müssen fast tausend einschlägig Vorbestrafte für die vermutete Tatzeit ein Alibi vorlegen.
Doch auch die Bevölkerung lässt der Fall «Hansli» nicht los.
Die Beamten gehen ebenfalls Hinweisen aus dem Ausland nach, doch weder bei der im italienischen Po gefundenen Kinderleiche noch bei «Hansli», der nach einer Meldung des Kölner Radios seine Mutter sucht, handelt es sich um den vermissten Zürcher Jungen.
Bis 1950 investiert die Polizei 12’000 Arbeitsstunden in den Vermisstenfall. Auch danach überprüft sie immer wieder Hinweise. Die Bevölkerung lässt der Fall «Hansli» ebenfalls nicht los. Einen Mann beschäftigt der Fall so stark, dass er den Verstand verliert – er muss in die Anstalt Burghölzli eingeliefert werden. Einer Zürcherin droht fast das gleiche Schicksal.
Trotz aller Bemühungen kann die Polizei den Täter nie ermitteln. Auch die Leiche von Hansli findet sie nicht. Der letzte glaubhafte Sachhinweis sind sechs Zitronen, die man 14 Tage nach dem Verschwinden des Jungen auf einem nahen Feld findet.
Dürrenmatt erhält von der Polizei Informationen zu einem ähnlichen Fall.
Auch der Filmproduzent Lazar Wechsler bekommt Hanslis Verschwinden mit. Kurz zuvor wurde er nach einigen harmlosen Filmen von der «Weltwoche» gefragt: «Die guten Stoffe findet man auf der Strasse, wieso gehen Sie diese nicht suchen?» Wechsler beschliesst, einen Spielfilm zum Thema «Sexualverbrechen an Kindern» zu drehen.
1957 gibt er Friedrich Dürrenmatt den Auftrag, ein passendes Drehbuch zu schreiben. Der Schriftsteller erhält von der Polizei Informationen zu einem ähnlichen Fall. Daraus entsteht der Film «Es geschah am hellichten Tag», der 1958 in die Kinos kommt, mit Gert Fröbe in der Rolle des Mörders. Der Film überzeugt Dürrenmatt allerdings nicht. Er schreibt deshalb mit «Das Versprechen» eine zweite Fassung. Anders als im Film wird in seinem Roman der Täter nie überführt. Jahrzehnte später wird auch dieser Roman verfilmt: In «The Pledge» (2001) spielt Jack Nicholson die Hauptrolle.