Nachtleben-Kolumne | Stadt & Geschichte

Als Zürich seine Trottoirs in der Nacht noch hochklappte

Text: Alexander Bücheli Fotos: ETH-Bibliothek, Baugeschichtliches Archiv

Zürich kann heute in der Nacht getrost zu einer der lebendigsten Städte Europas gezählt werden: Gemessen an der Zahl Einwohner*innen weist sie eine der höchsten Dichten an Nachtkulturorten weltweit auf. Unser Nachtleben-Kolumnist Alexander Bücheli über Zeiten, in denen nächtliches Vergnügen noch alles andere als selbstverständlich war.

Das Zürcher Nachtleben schaut auf eine lange Tradition zurück: Erste Trinkstuben existierten schon im 15. Jahrhundert. Mit der Öffnung der Stadt um 1830 nahm das Angebot, vor allem an Weinschenken, zu. Zwischen 1888 und 1916 gab es in Zürich keine Sperrstunde, was zu einem wahrhaftigen Gastro-Boom führte: Gerade im Niederdorf lag in einzelnen Gassen wie etwa dem Rindermarkt ein Gastronomiebetrieb neben dem anderen – um 1900 existierten in der Stadt über 1000 Wirtschaften. Und mit dem am 13. Januar 1916 eröffneten Palais Mascotte erhielt Zürich endlich ein Tanzlokal à la Paris und Berlin.

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Der Neumarkt im Jahr 1912 – damals gab es keine Sperrstunde. Dies änderte sich vier Jahre später. 

Doch Zürich wäre nicht Zürich, wenn trotz der Euphorie nicht auch die Probleme des Nachtlebens leidenschaftlich diskutiert würden – damals waren es in erster Linie Fragen der Sittlichkeit. Als Konsequenz dieser Debatte kam es 1916 zu einer Abstimmung, in deren Folge die Polizeistunde wieder eingeführt und auf 24 Uhr gesetzt wurde. Zudem gab es Tanzverbote an Sonntagen und christlichen Feiertagen. Erst 1928 wurden wieder ein paar wenige Dancings bewilligt, mit einer zeitlichen Betriebseinschränkung von 15 bis 18 Uhr und 20 bis 23 Uhr, was ebenso für die Musik galt.

Die Geselligkeit nach Mitternacht wurde als unnötig, unsittlich und ungesund beurteilt.

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Ein Konzert im Nightclub Börse im Jahr 1957

Ab den 1930ern bedurfte es zum Betrieb von Gasthöfen und Wirtschaften eine staatliche Bewilligung (Patent). Diese wurde nur erteilt, wenn der Betrieb einem Bedürfnis entsprach und dem öffentlichen Wohl nicht zuwiderlief – wobei Letzteres stark mit Alkoholausschank verknüpft war. Deshalb gab es eine grosse Anzahl von Gastronomiebetrieben ohne Alkoholausschank, sogenannte Tea-Rooms. 1954 erprobte man bei drei ausgewählten Lokalen eine Ausdehnung der Sperrstunde auf 2 Uhr nachts. Der Versuch dauerte allerdings nur ein knappes Jahr: Die Geselligkeit nach Mitternacht wurde als unnötig, unsittlich und ungesund beurteilt und auf Drängen von Frauenorganisationen und Pfarrkonventen wurde der Ausgang wieder auf 23 Uhr begrenzt.

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Wenig verwunderlich, dass die Anzahl an Gastrobetrieben zunächst stark zurückging und danach jahrzehntelang stagnierte. 1960 existierten in der Stadt Zürich insgesamt 932 Gaststätten, nämlich 775 Speisewirtschaften und 157 alkoholfreie Tea-Rooms. (1980 waren es mit 1074 Gaststätten, davon 335 alkoholfreie Tea-Rooms, übrigens nur wenig mehr.)

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Die Bands The Ladybeats (1965) ... 

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... sowie Les Sauterelles (1967) bei einem Auftritt im Road Shark Club

Etwas Leben und Farbe in die sonst eher tristen Zürcher Nächte brachte die Jugendbewegung der 1960er-Jahre: Konzerte und Festivals prägten das kulturelle Angebot. Besetzte Häuser, zum Beispiel das Globus-Provisorium und der Lindenhof-Bunker, wurden zu Orten der Jugendkultur. Doch die Polizeistunden und die rigorose Bewilligungspolitik galten zumindest für die bewilligten Betriebe weiterhin. Erst nach zwei erfolglosen Abstimmungen 1959 und 1962 war es 1970 endlich so weit: Die Polizeistunde bis 2 Uhr wurde Tatsache. Ende der 1980er-Jahre kam es nochmals zu einer Ausweitung bis längstens um 4 Uhr, doch davon profitierten aufgrund der nach wie vor geltenden Bedürfnisklausel nur eine Handvoll Betriebe.

Es gab nur vier Clubs, die bis 4 Uhr offen haben durften – und die durften nur Eis und Gläser servieren, keine Getränke.

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Zürich galt in den 1980er-Jahren als «stier», zwinglianisch langweilig. Man ging im Niederdorf hin und her, nur wenige Lokale durften Alkohol verkaufen. Es war schwierig, überhaupt eine Beiz aufzumachen. Es gab nur vier Clubs, die bis 4 Uhr morgens offen haben durften – und die durften nur Eis und Gläser servieren, keine Getränke. Der Frust der städtischen Jugend über das fehlende kulturelle Freizeitangebot entlud sich dann in den 1980er-Jahren: Die Protestbewegung forderte Freiräume und richtete sich dabei gegen das kulturelle Establishment, etwa das Opernhaus. Die Stadt reagierte nach heftigen Demonstrationen auf die Forderungen und mit der Roten Fabrik und dem Dynamo entstanden die ersten Zürcher Jugendkulturzentren.

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Millionen Franken Schmiergelder hatte der Chefbeamte Raphael Huber von 1982 bis 1991 kassiert.

Doch bis zur Liberalisierung des Gastgewerbegesetzes war es noch ein weiter Weg. Ein wichtiges Kapitel schrieb dabei einer der grössten Korruptionsskandale, den die Schweiz je erschütterte: die sogenannte Zürcher Wirteaffäre. 2,3 Millionen Franken Schmiergelder hatte der Zürcher Chefbeamte Raphael Huber von 1982 bis 1991 kassiert. Gastrounternehmer und Wirte, die Huber schmierten, erhielten im Gegenzug schneller die benötigten Bewilligungen. Hubers Tarife waren happig: 50’000 Franken verlangte er gemäss Zeugen für eine Verlängerung der Öffnungszeit, 20’000 Franken für ein Alkoholpatent. Dieser Skandal machte wohl allen bewusst, wie wenig das damals veraltete Gastwirtschaftsgesetz dem Wunsch der städtischen Bevölkerung nach nächtlicher Kultur entsprach.

1996 kam es zur Abstimmung und das Zürcher Stimmvolk sagte schliesslich Ja zur Liberalisierung des Gastgewerbes. Ausschlaggebend für dieses Umdenken war nicht nur das veränderte Freizeitbedürfnis, sondern auch die Hoffnung der Stadtzürcher Bevölkerung, dass die Gastronomie die Innenstadt wieder beleben würde, die in den 1980er- und 1990er-Jahren mit der offenen Drogenszene und einer generellen Stadtflucht konfrontiert war. Endlich stand der Erfolgsgeschichte des Zürcher Nachtlebens nun nichts mehr im Weg.