Nachtleben-Kolumne

Post-Covid: Zürich braucht einen Summer of Love

Wer in den letzten Wochen draussen unterwegs war, spürte förmlich den Druck, das gewohnte soziale Leben wieder aufzunehmen. Dazu gehört auch die neu erwachte Lust auf Veranstaltungen. Und nach diesen düsteren Zeiten ist es mehr als gesund, die Lebensfreude wieder vermehrt zu zelebrieren. Ein zweiter Summer of Love wäre deshalb auch für die Stadt Zürich die richtige Post-Covid-Therapie, ist unser Nachtleben-Kolumnist überzeugt.

Corona war und ist für die ganze Gesellschaft eine grosse Herausforderung, geprägt von Leid, Unsicherheit und Zukunftsängsten. Nicht nur Todesfälle in Zusammenhang mit Covid-19 gab und gibt es leider weiterhin zu beklagen. Auch psychische Störungen und Erkrankungen nahmen zu. Das zeigen nicht nur verschiedene Studien zur psychischen Gesundheit in der Schweiz, das ist auch die traurige Realität in den Psychiatrien. Es war richtig und wichtig, die Strategie während der Pandemie darauf auszurichten, Covid-bedingte Todesfälle und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Nun ist es aber an der Zeit, die Lebensfreude wieder zu zelebrieren. Waren es nach der Spanischen Grippe die Roaring Twenties, braucht es nun einen zweiten Summer of Love als Post-Covid-Therapie.

7000

kulturelle Veranstaltungen konnten in Zürich nicht stattfanden.

Die letzten 15 Monate haben gezeigt, wie solidarisch unsere Gesellschaft sein kann. Wie es möglich ist, selbst banale menschliche Bedürfnisse wie das Pflegen sozialer Kontakte zum Wohle der Allgemeinheit praktisch einzustellen. Dass dies auf Dauer ungesund ist, zeigen nun die damit verbundenen psychischen Nebenwirkungen. Gerade in Bezug auf soziale Begegnungen spielen das Nachtleben und Veranstaltungen eine wichtige Rolle. Hinzu kommt, dass in Musik-Bars, Clubs und an Festivals nicht nur Kontakte geknüpft und gepflegt werden – durch die kulturelle Teilhabe lassen sich auch die Bedürfnisse nach Musik, Farben und Formen befriedigen. Wenig überraschend hat eine Studie aus England vor ein paar Jahren gezeigt, dass Konzertbesuche die Lebenserwartung verlängern. Dass nun seit Beginn der Pandemie allein in der Stadt Zürich über 7000 kulturelle Veranstaltungen nicht stattfanden, drei Millionen Gäste nicht in den Genuss einer kulturellen Teilhabe kamen, geht nicht einfach spurlos an unserer Gesellschaft vorbei. Die Angst vor einer Ansteckung und die damit verbundene Isolation förderte zudem Soziophobien: Nicht wenige Menschen müssen wieder lernen, unter Menschen zu sein, soziale Kontakte zu schliessen und zu pflegen. Und die heute 18-Jährigen nahmen vielleicht noch gar nie an einem Festival oder an einer Clubnacht teil.

Vorwärts aus der Krise – wie 1967, als auf der Allmend am Zürcher Stadtrand das erste «Love-in» der Schweiz organisiert wurde.

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Was gäbe es nun Passenderes, als einen zweiten Summer of Love als Post-Covid-Therapie auszurufen. Vorwärts aus der Krise – wie 1967, als auf der Allmend am Zürcher Stadtrand das erste «Love-in» der Schweiz organisiert wurde, also noch vor Woodstock! Es war sozusagen ein Vorreiter der späteren Open Airs. Rund 2000 Hippies erschienen zum unbewilligten Happening, an dem auch Bands wie Anselmo Trend und die Minstrels auftraten. Das Fest wurde zum friedlichen, fantasievollen Aufbegehren gegen verkrustete Normen wie Polizeistunde und Konkubinatsverbot. Heute wäre ein «Love-in» nur allein schon deshalb ideal, um die Lebensfreude wieder gemeinsam zu feiern. Um (wieder) zu lernen, was es heisst, ein Mensch, ein soziales Wesen zu sein.

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Einmal mehr scheint der Ruf nach mehr nächtlichem Freiraum draussen in der Stadt Zürich nicht auf offene Ohren zu stossen.

Einzelne Vorboten für einen Summer of Love im Kanton Zürich gibt es schon. The Lake, The View, The Valley, Horse Park Festival usw. kündigen es an: In diesem Sommer wird auch im Kanton Zürich bevorzugt draussen gefeiert. Die angekündigten Line-ups reichen von Acid-Pauli über Tale of Us bis hin zu den Lokalmatadoren Animal Trainer und Vanita. Doch die meisten Festivals sind in der Peripherie angesiedelt und finden als Day Dance, also tagsüber statt. Doch gerade die Möglichkeit, sich in der Zeit zu verlieren, nicht auf die Uhr schauen zu müssen, wann eine Party zu Ende geht, zählt zu den wichtigen Faktoren, was die Attraktivität der Kultur der Nacht für den Menschen ausmacht.

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Einmal mehr scheint der Ruf nach mehr nächtlichem Freiraum draussen in der Stadt Zürich nicht auf offene Ohren zu stossen. Der Stadtrat hat grossartige Arbeit geleistet, was die pragmatische Unterstützung der KMU in der Stadt während der Pandemie betrifft. Etwas Mut zeigte er gar, als er unbürokratisch eine Ausdehnung der Aussengastronomieflächen ermöglichte. Doch aufgrund des Nachpandemie-Zustands unserer Gesellschaft wäre es nun Zeit für einen mutigen Schritt nach vorne.

Die Stadt Basel hat es mit dem Projekt «ZwischenZeit» vorgemacht: Sie ermöglicht im Spätsommer 2021 die Durchführung mehrerer kultureller Veranstaltungen im öffentlichen Raum. Das Projekt unterstützt Basler Konzert- und Clubveranstaltende, regionale Kunstschaffende sowie das lokale Veranstaltungsgewerbe. Gleichzeitig profitiert die breite Bevölkerung vom kulturellen Angebot. In der Medienmitteilung steht, mit dieser Entscheidung setze der Regierungsrat ein Zeichen und fördere aktiv die Nachtkultur, die ausgesprochen stark von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen sei. Auch Berlin zeigt sich mit dem «Draussenstadt»-Ansatz gerade wieder mal von seiner besten und innovativsten Seite: Dank dieser Initiative können in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 eintrittsfreie Kulturveranstaltungen im Stadtraum finanziert werden. Die Stiftung für kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung vergibt aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und Europa eine Million Euro. Zum Projekt gehört auch eine Landkarte mit für kulturelle Veranstaltungen geeigneten Flächen in der Innenstadt.

Die Toleranz für die Bedürfnisse der jungen Menschen sollte heute eigentlich – nach dieser für sie vor allem vom Verzicht geprägten Zeit – so gross sein wie noch nie.

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Und was passiert in Zürich, der Kulturhauptstadt der Schweiz? Es gibt zwar schon seit Jahren die Jugendbewilligungen für Partys draussen. Ein bisschen Mut zeigt man immerhin bei den Aussengastronomieflächen. Doch der grosse Wurf zur kulturellen Aufarbeitung der Pandemie fehlt bis jetzt. Die Street Parade wird nicht stattfinden, auch verschiedenste Quartierfeste und kleine Festivals wurden abgesagt. Die Konzertreihe «Stadtsommer» latscht weiterhin auf vorgegebenen Pfaden, ohne sich innovativ und vielleicht mal kooperativ zu zeigen. Den städtischen Lärmaposteln scheint es gelungen zu sein, die Regierung zu lähmen. Es herrscht Angst davor, den Unmut einer kleinen, aber einflussreichen Gruppe von Innenstadtbewohner*innen auf sich zu ziehen. Irgendwie paradox, denn der Wegfall der Kultur der Nacht hat in der Gesellschaft nicht nur psychisch seine Spuren hinterlassen, es gab im letzten Sommer auch so viele Lärmklagen wie noch nie. Gerade im Sommer 2021 wäre es an der Zeit, nicht nur bei der Aussengastronomie etwas zu wagen. Denn die Toleranz für die Bedürfnisse der jungen Menschen sollte heute eigentlich – nach dieser für sie vor allem vom Verzicht geprägten Zeit – so gross sein wie noch nie. Auch in der Stadt Zürich liessen sich draussen Flächen in der Nacht bespielen. Dank innovativer Beschallung sogar so, dass die Emissionsbelästigung niedriger ausfallen würde, als wenn x-Boomboxen in einem Park um die Zuhörer*innen buhlen. Doch der Sommer ist noch lang. Und die Hoffnung stirbt zuletzt, dass auch die Zürich Regierung einsieht, dass es nichts Besseres als Post-Covid-Therapie gäbe, als für 2021 einen zweiten Summer of Love auszurufen.