Zeitreise | Stadt & Geschichte
Die Kraft des Wassers
Die Menschen versuchten schon früh, die Wasserkraft für sich technisch nutzbar zu machen. Mit Wasser wurden Getreidemühlen in Gang gebracht und Webmaschinen angetrieben. Ihr grösstes Potential entfaltete die Wasserkraft bei der Elektrifizierung des Landes.
Bereits zur Römerzeit gab es auf dem Territorium der heutigen Schweiz Wasserräder, die Getreidemühlen und Wasserschöpfwerke betrieben. Die aus Holz gefertigten Wasserräder waren neben der Windkraft und der Muskelkraft durch Menschen oder Tiere der einzige Antriebsmotor. Die Wasserkraft wurde für gewerbliche Zwecke zum Beispiel bei Sägereien oder bei Hammerschmieden und in der Frühindustrialisierung als Antrieb von Spinnerei-, Zwirn- und Webmaschinen eingesetzt.
Nützliche Dienste leistete die Wasserkraft insbesondere bei der Elektrifizierung der Schweiz. Mithilfe von Turbinen wird die kinetische Energie des Wassers in Rotationsenergie umgewandelt, was die Drehung der Turbinenwelle bewirkt. Diese Drehung wird zum Antrieb eines Generators für die Stromerzeugung verwendet. Der Hotelpionier Johannes Badrutt (1819-1889) war an der Pariser Weltausstellung 1878 derart von der dort gezeigten elektrischen Beleuchtungsanlage fasziniert, dass er im gleichen Jahr in St. Moritz eine Wasserturbine in Betrieb nahm. Das erste elektrische Licht der Schweiz brannte infolgedessen am 18. Juli 1879 im alten Speisesaal des St. Moritzer Hotels Kulm. Elektrizität stand für Fortschritt und Wohlstand. Es überrascht nicht, dass mit der Tramway Vevey-Montreux-Chillon auch die erste elektrische betriebene Bahn der Schweiz in der touristisch geprägten Genferseeregion unterwegs war. Mit der Lötschbergbahn und der Rhätischen Bahn wurde die Elektrifizierung auch bei grösseren Bahnen erreicht.
Abhängigkeit von Energieimporten
Die Schweiz sorgte früh mit Rekorden für Aufsehen: 1872 wurde bei Pérolles südlich von Freiburg Europas erste Betonstaumauer, 1921 die erste Bogenstaumauer Europas (Montsalvens) und 1924 im Wägital mit 111 Metern die höchste Wassersperre der Welt errichtet. Der mit Abstand wichtigste Energieträger blieb jedoch Kohle. 1910 hatte Strom erst einen Anteil von rund 3,5 Prozent an der gesamten Energienutzung in der Schweiz. Weil die Schweiz praktisch keine eigenen Kohlevorkommen hat, musste sie aus dem Ausland importiert werden. Diese Auslandabhängigkeit zeigte sich insbesondere während des Ersten Weltkrieges. Nach Kriegsende wurde vorwärts gemacht. Die SBB elektrifizierte ihre Bahnlinien und baute dafür eigene Wasserkraftwerke: Mit Ritom (1920) im Kanton Tessin und Amsteg (1922) im Kanton Uri wurde die Gotthardlinie elektrifiziert und ab 28. Mai 1922 war die ganze Strecke von Luzern bis Chiasso durchgehend mit Strom befahrbar.
Kooperation
Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog des Landesmuseums erschienen. Dort gibt es regelmässig spannende Storys aus der Vergangenheit. Egal ob Doppelagent, Hochstapler oder Pionier. Egal ob Künstlerin, Herzogin oder Verräterin. Tauche ein in den Zauber der Schweizer Geschichte.
Die Elektrifizierung der SBB war Anfang des 20. Jahrhunderts für die noch junge Strombranche und für das ganze Land von grosser Bedeutung. In der Zwischenkriegszeit wurde die Wasserkraft zu einer Angelegenheit von nationalem Interesse, Strom als die «weisse Kohle» wurde der schwarzen «dreckigen Kohle» des Auslands gegenübergestellt.
Wasserkraft als Schweizer Mythos
Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der Energiehunger zu. Diverse Bereiche wurden elektrifiziert, elektrische Haushaltsgeräte und Wärmeapparate waren im Nachkriegshoch beliebte Konsumgüter. Im Jahr 1956 standen in der Schweiz 17 Kraftwerke, mehrheitlich in den Alpenkantonen, im Bau. Die Errichtung der neuen Staumauer Grande Dixence von 1951 bis 1965 im Wallis war der Inbegriff eines gigantischen Wasserkraftprojekts und in vielerlei Hinsicht ein Bauwerk der Superlative. Die in schwindelnde Höhen wachsenden Staumauern trugen zur Schaffung eines Schweizer Mythos bei. Nachdem das Ansehen des Landes während des Zweiten Weltkrieges gelitten hat, schmeichelte die Wasserkraft dem kollektiven Bewusstsein der Schweiz: Einem kleinen Volk gelingt es mitten in Europa erfolgreich, das Wasser zu zähmen und aus einer feindseligen Natur dank seiner zahllosen Maschinenerfinder und Ingenieure die freundlichste aller Energien für die Entwicklung des Landes zu nutzen.
Baustellen und ausländische Arbeitskräfte
Die Umsetzung der Wasserkraftprojekte und der Bau der Staumauern erforderten eine ausgeklügelte Logistik. Vor Ort mussten zusätzliche Strassen, ein Betonwerk, Lagerdepots für die Unmengen an Materialien, Unterkünfte und weitere Gebäude für die Arbeitskräfte errichtet werden. Das verkehrstechnisch schwer erreichbare Kraftwerk Linth-Limmern im Glarnerland erforderte die Errichtung von Seilbahnen, um die Baustoffe auf fast 2000 Meter über Meer zu transportieren. Zwei Tramwagen der Verkehrsbetriebe Zürich beförderten als «Stollentrams» die Arbeitskräfte zur Baustelle.
Wasserkraftprojekte beschäftigten auch immer wieder die zwischenstaatlichen Beziehungen. Das Errichten von Staumauern und das Erschliessen von Wasserquellen machten in gewissen Fällen sogar eine Verschiebung der Landesgrenze notwendig – so geschehen mit Italien 1953 und mit Frankreich 1963. Die Arbeiten im Hochgebirge forderten den meist italienischen Arbeitskräften physisch und psychisch alles ab. Auch vor Unfällen blieben sie nicht verschont. Beim Bau des Mattmark-Staudamms im Kanton Wallis verschütteten im Jahr 1965 herabstürzende Eismassen 88 Menschen, hauptsächlich italienische Arbeiter.
Ein kontrovers diskutiertes Thema
Die Schweiz gilt als Wasserschloss Europas. Trotz idealer Bedingungen war die Integration der Wasserkraft ins Schweizer Energiesystem aber keineswegs ein Selbstläufer. Sie war von einem stetigen Aushandlungsprozess geprägt und endete oft mit einem gutschweizerischen Kompromiss. In den teils emotional geführten Debatten nahm sowohl die befürwortende als auch die gegnerische Seite auf abstrakte Ideale wie das Allgemeingut oder die Natur Bezug, um für oder gegen Wasserkraftprojekte zu argumentieren. Einigen Projekten wehte ein rauer Wind entgegen. In den 1940er-Jahren stand im Urserental im Kanton Uri die Errichtung einer Staumauer im Raum, bei deren Realisierung rund 2000 Menschen dem Stausee hätten weichen müssen. Nach friedlichen Protesten entlud sich die angestaute Wut in der «Krawallnacht» vom 9. Februar 1946. In dieser Nacht drohten aufgebrachte Andermatterinnen und Andermatter, den leitenden Ingenieur über die Teufelsbrücke zu werfen und zertrümmerten ein im Projekt involviertes Architekturbüro.
Nach der Realisierung diverser anderer Projekte ebbte Ende der 1960er-Jahre die Wasserkraft-Euphorie etwas ab. Auch die Schweiz setzte für die Energiegewinnung auf den Bau von Kernkraftwerken. Erhöhte Umweltauflagen verlangsamten die Realisierung von Projekten. Bis heute ist die Wasserkraft aus Umweltsicht ambivalent: Naturschützerinnen und Naturschützer beklagen einen Eingriff in das Landschaftsbild und den Verlust an Biodiversität. Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten sehen sie dagegen als eine der nachhaltigsten Formen für die Stromerzeugung und als wichtiges Instrument für den Klimaschutz an. Fakt ist: Stauseen sind neben zuverlässigen Lieferanten von erneuerbarer Energie auch gigantische Energiespeicher und können einen wichtigen Beitrag zur Überbrückung der Winterstromlücke leisten.