Zeitreise | Stadt & Geschichte
Der Tessiner Glacékönig
Carlo Gatti aus einem Tessiner Bergtal wanderte nach Paris und später nach London aus. Dort verkaufte er als Erster Speiseeis über die Gasse und entwickelte sich nach und nach zum ungekrönten «Eiskönig» des victorianischen Englands.
Mögen Sie Speiseeis? Oder wie man in der Schweiz sagt: Mögen Sie Glacé? Der Erste, der dieses den einfachen Leuten zugänglich machte, war ein Schweizer. Aber es war ein Schweizer weit entfernt von der Schweiz: Carlo Gatti.
Im Hungerjahr 1817 kam der Junge in kleinen Dorf Marogno im Bleniotal zur Welt. Karg und bescheiden war das Leben im Tessiner Bergtal. Wer mehr wollte, als nur knapp überleben, der musste weg, musste auswandern. Weg wollte Carlo Gatti auch, weil er ein schlechter Schüler war und dies immer wieder durch die Hiebe des Dorflehrers zu spüren bekam.
Kooperation
Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog des Landesmuseums erschienen. Dort gibt es regelmässig spannende Storys aus der Vergangenheit. Egal ob Doppelagent, Hochstapler oder Pionier. Egal ob Künstlerin, Herzogin oder Verräterin. Hier kann man eintauchen in den Zauber der Schweizer Geschichte.
Die gebratenen Kastanien, die im Tessin so beliebt waren, wollte in Paris keiner.
So machte er sich schon im Alter von 13 Jahren auf, um seine Heimat für immer zu verlassen. In manchen Überlieferungen war er erst 12 und konnte nicht einmal schreiben. Dichtung und Wahrheit vermischen sich hier in der Biografie von Carlo Gatti.
Was aber alle übereinstimmend berichten: Zu Fuss verliess der Junge das Tessin und wanderte nach Paris, wo schon Verwandte von ihm wohnten. Er genoss das Leben in vollen Zügen, spielte gern um Geld, probierte dies und das aus, strauchelte aber immer wieder. Zum Beispiel mit dem Verkauf gebratener Kastanien, die im Tessin so beliebt waren, aber in Paris keiner wollte. Doch Carlo Gatti lernte bei seinen Misserfolgen, was ihm die Schule nicht hatte beibringen können, nämlich innovativ zu sein und das der Kundschaft zu zeigen.
Im Alter von 30 Jahren entschloss er sich, weiter nach London zu ziehen, wo das British Empire in voller Blüte stand. Im Stadtviertel Holborn betrieb er einen Verkaufswagen mit Kaffee und Waffeln, dazu bot er auch noch Marroni an. Vor allem irische, aber auch italienische Einwanderer wohnten in diesem eher ärmlichen Stadtteil, die wie Gatti ein Auskommen in der Grossstadt suchten.
Dichtung und Wahrheit vermischen sich in der Biografie von Carlo Gatti.
Stück für Stück schmiedete Gatti weiter an seinem Glück. Zwei Jahre nach seiner Ankunft gründete er mit dem Tessiner Kompagnon Battista Bolla ein fest installiertes Kaffeehaus. Und noch ein Jahr später – 1850 – kam die eigene Schokoladenproduktion dazu; den Kakao rösteten die Tessiner «Gatti & Bolla» publikumswirksam im Schaufenster ihres Lokals. Zudem boten sie im Innern Süssigkeiten wie Waffeln und Schokolade, heisse Getränke und kleine Mahlzeiten an.
Zur Abrundung des Angebots kam die Innovation Gattis: Er verkaufte Speiseeis, und zwar erstmals nicht für Könige oder andere Reiche, sondern erschwinglich für jede Frau und jeden Mann. Er demokratisierte damit das Schlecken von Ice cream.
Dazu scheute er keinen Aufwand, denn es gab zu dieser Zeit weder Kühlanalagen noch Eismaschinen. Gatti importierte das Eis per Schiff aus Norwegen, bohrte am Regent’s Canal 10 Meter breite und 13 Meter tiefe Löcher in den Boden. Dort konnte er im Zeitalter vor der Elektrizität das Gefrorene kühl lagern. Zudem importierte er eine Eismaschine aus Frankreich, wo das Glacé zwar den Reichen und Vornehmen vorbehalten, aber seine Produktion schon weiterentwickelt war.
Der Analphabet wurde innert weniger Jahre zum Multimillionär!
Der erste Erfolg stellte sich ein, als Gatti den Preis nach unten anpasste und entsprechend vermarktete: Er verlangte nur einen Pence und nannte sein Eis «Penny-Ice». Bald hatte Gatti Hunderte von italienischen Eisverkäufern in ganz London im Einsatz und galt als ungekrönter «Eiskönig» der Hauptstadt.
Als dann die Weltausstellung 1851 in London für Aufsehen sorgte, bestand Gatti quasi alle Prüfungen, die er früher verpasst hatte: Denn er präsentierte dort gemeinsam mit Battista Bolla eine Maschine zur automatischen Zubereitung von Speiseeis – eine Sensation! Der Aufstieg der Beiden war in der Folge steil: Sie eröffneten unzählige Cafés, Eisdielen und einen Cateringbetrieb, mit dem sie die private Kundschaft belieferten, aber auch Restaurants, Lebensmittelhändler und Spitäler gehörten zur Kundschaft. Dazu hatten Gatti & Bolla einen ganzen Fuhrpark mit Pferdewagen. In den Cafés setzte Gatti auf eine einfache Küche mit Gerichten zu moderaten Preisen aus Kontinentaleuropa. Der (angebliche) Analphabet wurde so innert weniger Jahre zum Millionär und zum Multimillionär!
Als ein Grossbrand 1854 ihren Stammbetrieb zerstörte, hatten Gatti und Bolla Glück im Unglück: Sie waren gut versichert. Mit der ausbezahlten Summe gründeten sie weitere Cafés, und Gatti begann zu diversifizieren. Er richtete risikoreich Music halls, Billardsäle und Tanzlokale ein und reüssierte auch damit: Das «Gatti’s Palace of Varieties», das «Gatti’s in the Arches» und die «Charing Cross Hall» entwickelten sich zu angesagten Treffpunkten der vergnügungswilligen Jugend.
Gatti liess sich in England einbürgern. Dennoch vergass er nie seine Tessiner Heimat, der er als Förderer von Emigranten aus seiner Heimat verbunden blieb. Er zog zahlreiche Tessiner nach, die in seinen Betrieben ein Auskommen fanden. In den Stadtvierteln Strand Area, Holborn, Lambeth und Islington entstanden aufgrund von Gattis vielfältigem Wirken eigentliche Tessinerkolonien.
Schliesslich kehrte Carlo Gatti 1871 ins Bleniotal zurück.
Schliesslich kehrte Carlo Gatti 1871 ins Bleniotal zurück, das er mit 12 oder 13 Jahren verlassen hatte. Dort heiratete er, mittlerweile 54 Jahre alt, seine zweite Frau Marietta Andreazzi, die 23 Jahre jung war. Er sass für die Liberalen während zwei Legislaturperioden im Grossen Rat, dabei unterstützte er vehement den Bau der Strasse über den Lukmanier. Damit wollte er erreichen, dass im Bleniotal eher ein Überleben ohne Auswanderung möglich sein würde, trotz seinen guten Erfahrungen in der Emigration. 1878 starb Carlo Gatti im Alter von 61 Jahren an den Folgen eines Unfalls; in Bellinzona steht ein grosses Grabmal auf dem Stadtfriedhof, das bis heute an den umtriebigen Tessiner erinnert.